fokus

Zehn nach Weill

 

Der Hintergrund

Im Anfang des Theaters waren Musik und Drama eins. Das ist eine Annahme. Verbreitet, verlockend und fragwürdig. Auch Kurt Weill geht in seinen Texten zum Musiktheater von diesem A priori einer urtümlichen, natürlich-künstlerischen Einheit auf dem Theater aus. Unter entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, sagt er, sei der Begriff "Musik-Theater" deshalb "eigentlich eine Tautologie" und er nennt Drama und Musik "unzertrennlich in ihrem Ursprung." (1

"Das musikalische Theater ist so alt wie das Theater selbst. Die alten Kulturen, aus denen unsere Theater hervorgegangen sind, das griechische Theater, das japanische Theater und die Mysterienspiele des Mittelalters, versuchten und vollendeten, jedes auf seine Art, jene Verbindung von Wort, Ton und Bewegung, die später zur Schaffung der Opernform führte. Da das Theater eine Volkskunst war, benötigte es die Musik, die seit jeher die natürlichste, "populärste" künstlerische Ausdrucksform war." (2

Der Glaube an jene ehemals vollendete künstlerische Einheit ist wahrscheinlich ein Irrtum. Der Glaube an das Theater als Volkskunst, der bei Weill ja nicht nur in seiner Rückschau eine Rolle spielt, dürfte eine Spekulation sein. Davon abgesehen: Kurt Weills Kritik am Zustand des Musiktheaters ist interessant, seine Forderungen bedenkenswert genug, um als Hintergrund für die hier vorgebrachten Überlegungen zu dienen. Weill zeichnet die Entwicklungsgeschichte des Theaters als eine Geschichte des Verlustes. Das symbiotische Zusammenwirken der Künste, das für ihn die Größe des Theaters begründet, sei verloren und müßte wiederhergestellt werden. Warum? Weill glaubt an eine gesellschaftsverändernde Aufgabe und Wirkung von Kunst und sieht im Theater, in jenem totalen Theater, das geeignetste künstlerische Mittel, den Menschen zu erreichen. Über das Wie dieses Zusammenwirkens aber gibt Weill nur vage Auskünfte. Er kommt in seinen Beschreibungen nicht aus seiner "musikalischen Haut", baut sowohl das historische und nun verlorene, als auch das angestrebte neue Ganze letztlich immer auf das Vermögen der Musik auf und weiß über die Leistungen und Aufgaben der anderen Künste wenig zu sagen. Somit hält er den großen Traum von der Theaterkunst, in der die Dichtkunst, die Tonkunst und die Bildkunst gleichberechtigt ihr spezifisches Vermögen zur Hebung des Ganzen einzubringen hätten, entgegen seinem guten Vorsatz in Schranken, weil ihm das Vermögen der Dichtkunst und der Bildkunst weniger bekannt oder fremd bleibt. Vielleicht war ihm die Problematik bewußt: Daß er sich von seinem Betrachterstandpunkt nicht weit genug distanzieren konnte, um eine andere Perspektive zu bekommen, daß er sich das Gesamtkunstwerk nicht anders zu denken vermochte, als von der musikalischen Struktur her konzipiert.

In einem Text über die Beziehung zwischen den Künsten formuliert Weill seinen Traum noch einmal, allerdings nicht, ohne diesmal zuvor in erstaunlicher Klarheit auf die Autonomie der Künste zu verweisen: "Jedes Kunstwerk, jede Schöpfung der Musik, Dichtung und Architektur ist in sich abgeschlossen, hat ihre eigene Funktion, ihre eigene Form der Beziehung zwischen ihrem Schöpfer und denen, für die sie geschaffen wurde. Deshalb gibt es auch keinen gemeinsamen Nenner, um eine tatsächliche Beziehung zwischen Kunstwerken unterschiedlicher Genres festzustellen. Wenn wir beispielsweise versuchen, die Beziehung zwischen einem Gemälde und einer Sinfonie zu finden, müßten wir zunächst einen mehr oder weniger exakten "Bedeutungsgehalt" in beiden auffinden und danach versuchen, diesen Gehalt miteinander in Verbindung zu setzen. Aber je reiner ein Kunstwerk ist, desto schwieriger ist es, seinen Bedeutungsgehalt zu bestimmen." (3

Kurt Weill, der hier eine wichtige Grundaussage verankert hat - gerade der letzte Satz der Passage wäre doppelt zu unterstreichen - glaubte dennoch an die Realisierbarkeit dieses Traums. Er glaubte an die Möglichkeit einer "echten Verbindung der Künste" (4 auf dem Theater, weil er überzeugt war, Künstlern verschiedener Genres könnten sie in gemeinsamer Anstrengung vollbringen.

 

erstens

Ein Musiktheater, in welchem das gleichwertige und gleichberechtigte Zusammenwirken der Künste die Gesamtform prägt, gibt es nicht. Was sich heute Musiktheater nennt, ist nach wie vor ein musikinternes Spezifikum. Es ist noch immer in aller Regel Oper, jene Oper, die wie eh und je der Ideenwelt eines musikschaffenden Geistes entspringt und ein literarisch mehr oder weniger bedeutsames Libretto vertont, jene Oper, die in den meisten Fällen von Opernhäusern in Auftrag gegeben wird, und schließlich in dieser Institution durch die Arbeit unterschiedlichster Spezialisten - von der, wenn sie vom musikalischen Sektor abweicht, der Autor nichts versteht - das Leben der Aufführung eingehaucht bekommt. Die Opernhäuser wiederum sind, praktisch wie ideell, darauf spezialisiert, einen Ablauf in dieser Art zu vollziehen. Sie verlangen gewissermaßen nach der traditionellen Verfahrensweise und verlocken, nicht zuletzt durch ihre gesellschaftliche Bedeutung, zur Produktion immer neuer Opern.

 

zweitens

Musiktheater einer anderen Art gibt es dennoch. Die Vorstellungskraft erlaubt es, in den verborgenen Winkeln des Kunstschaffens sogar solches zu vermuten, das dem wirklich kunstverbindenden Anspruch näherkommt. Im öffentlich-subventionierten Kulturleben spielt es aber keine Rolle. Der Rang der Oper oder der ihr ähnlichen Formen ist unangefochten.

 

drittens

Eine bemerkenswerte Bewegung im etablierten Musiktheater in Richtung auf eine wirkliche Öffnung gegenüber den "außermusikalischen" Künsten scheint nicht in Sicht. Entweder sie ist längst nicht mehr wirklich gewollt oder sie mißlingt. Eine Erweiterung nach oben, wo Literatur, Musik und Bild allesamt auf der gleichen Höhe zeitgemäßer Kunst sich vereinigen, scheint wie eine Utopie. Eine Erweiterung nach unten, wo alle diese Genres sich auf dem Niveau der Unterhaltung befinden, ist hingegen Wirklichkeit geworden: Während das erträumte Musiktheater Traum bleibt, ist das Musical zeitgemäße Realität; ihm gegenüber kann sich sogar die Oper, welcher der Geruch des Reaktionären anhaftet und die diesen Ruf mit innovativen Sprüngen zu überwinden trachtet, als Verteidigerin der künstlerischen Ideale behaupten.

 

viertens

Die "Verursacher" von Musiktheater sind Musikschaffende. Das Musiktheater eines Dichters oder eines bildenden Künstlers betritt nicht die Bühne. Dies kann nicht daran liegen, daß die Künstler der Sprache und die Künstler der Bilder zur Musik weniger eine Beziehung hätten, als umgekehrt die Tonkünstler zur Literatur oder zur bildenden Kunst. In jedem Kunst-Genre gibt es Grenzüberschreitungen. Aber jedes Genre arbeitet isoliert von den anderen. Und selbst jene Formen, die sich - von einem der jeweiligen Genres angeführt - um die Verbindung zu den anderen Künsten bemühen, bleiben letztlich doch spezielle Spielarten eben des einen Genres.

Es gibt zu viele verschiedene grenzüberschreitende Versuche und Ergebnisse aus allen Bereichen der Kunst, als daß sie an dieser Stelle ausgebreitet werden könnten. Ohne detaillierte Definitionen seien deshalb nur einige angedeutet: Da sind beispielsweise die häufigen, wenig komplexen "Kombinationen" von Text und Bild, mit rein illustrierenden oder schmückenden Aufgaben des Bildes; oder die Kombinationen von Text und Musik oder Bild und Musik, jeweils mit stimmungserzeugender Funktion der Musik. Die weit weniger vordergründigen und viel interessanteren Verbindungen finden freilich anderswo statt: Aus der bildenden Kunst gibt es immer wieder Beispiele, die das Wort oder einen Wortzusammenhang per se zum Bildinhalt machen. Dort initiiert das vielleicht isolierte oder zumindest in ungewohntem Zusammenhang auftretende Skriptum einen ungesicherten Raum; als Erscheinung irritiert es sowohl den Umgang mit dem Bild als auch den Umgang mit der Sprache. Hier ergibt sich eine ferne Verwandtschaft zur Poesie.(5
Weitere Stichworte sind Klangraum oder Raumklang: man betritt beispielsweise einen Raum und "spürt" mehr einen Klang als daß man ihn hört, muß sich konzentrieren, sucht, aber findet keine Schallquelle, durchwandert den Raum, nimmt Veränderungen des Klangs wahr und erlebt somit das Sehen des vielleicht schon bekannten Raumes, aber auch das Hören, anders und neu.(6   Solch eine Klanginstallation findet sich auf einer Ausstellung bildender Kunst! Etliche bildende Künstler arbeiten mit dem Raum und seiner erweiterten Erfahrbarkeit durch Klang oder auch durch Licht.(7  Andere "theatralisieren" einen begehbaren Raum durch harte, materielle Eingriffe(8, oder durch das Erscheinenlassen ritualisierter Sprach- und Bewegungkreisläufe (9. Ebenfalls als Trabant der bildenden Kunst hat sich, in den theatralischen Bereich hinein, die Aktion oder Performance entwickelt. Leichtsinnig gesprochen könnte man sie eine Verlebendigung des Bildes nennen, eine Erweiterung des Bildes nicht nur um die Dimensionen des Raumes und der Zeit, also der Ausdehnung und der Vergänglichkeit, sondern auch um die Dimension totaler sinnlicher Wahrnehmbarkeit. Das Bild bekommt Erscheinung und Bewegung, Geruch und Klang; (10 und, nicht selten, Symbolcharakter (11

Halten wir dieses Beispiel fest. Die Anwesenheit von "Akteuren" und oft auch von Musik könnte eine Nähe zum Theater oder gar zum Musiktheater vermuten lassen. In Wirklichkeit bleiben aber auch diese Formen voneinander isoliert; nicht der Theaterinteressierte und schon gar nicht der Musiktheaterinteressierte findet den Weg zu einer Performance, sondern fast ausschließlich der an zeitgenössischer bildender Kunst Interessierte. Und der wiederum findet nicht den Weg ins Musiktheater. Aber nicht nur das Publikum bleibt weitgehend unvermischt, auch unter den "Machern" dieser verschiedenen Formen gibt es so gut wie keine Kommunikation, keine interaktiven Verstörungen. (Es sei gestattet, daß die immer und überall auftretenden Ausnahmen bei diesen ganzen Überlegungen sozusagen stillschweigend im Hintergrund belassen werden.) Diese nur kurz und vergröbernd gezeigten Beispiele können als Beleg dienen für die Feststellung, daß es im sogenannten kulturellen Leben eine merkwürdige Art von "Mengenlehre" gibt: Obwohl eigentlich und logischerweise zwischen den großen Bereichen Musik, Literatur und bildende Kunst überall dort gemeinsam besetzte Überlappungen, also eine Art "Schnittmengen", entstehen müßten, wo diese Künste sich nicht einzeln und ausschließlich artikulieren, sondern auf die benachbarten "übergreifen", scheinen sich im Gegenteil gerade da eher divergierende Teilbereiche, Ausbuchtungen an den voneinander entferntesten Stellen zu bilden.

 

fünftens

Dieses Phänomen hat etwas mit Inkompetenz und Arroganz zu tun. Ein uomo universale zu sein, ein Mensch mit umfassender Bildung in den Wissenschaften und Künsten, ist, da diese sich in dem Versuch, das immer komplizierter gewordene "Bild" der Realität zu entwerfen, nicht nur voneinander getrennt, sondern auch jeweils in sich immer mehr aufgesplittet und spezialisiert haben, schon seit langem unmöglich. Selbst Leonardo da Vinci, oft beispielhaft genannt in seiner universellen Bildung und Könnerschaft, war auf dem Gebiet der Schwesternkünste Literatur und Musik wenig begabt. Daß die Wissenschaftler zu absoluten Spezialisten eines Teilgebietes ihres "Fachs" geworden sind, ist dem allgemeinen Bewußtsein nicht fremd, selbst die Wissenschaftler beginnen seit geraumer Zeit, sich vor ihrem eigenen Fachspezialistentum zu fürchten. Innerhalb des Kunstschaffens wird diese Problematik hingegen noch wenig oder gar nicht erkannt. Auch die Künstler sollten sich bewußt sein, daß sie Spezialisten sind. Zwar gibt es Doppelbegabungen, auch Mehrfachbegabungen; Künstler, die auf mehreren Gebieten gleichermaßen Bedeutendes hervorbringen und darüberhinaus womöglich noch auf demselben Niveau an Verbindungsmöglichkeiten der Künste arbeiten, dürften allerdings so schwer zu finden sein wie das Genie unter Genies. Leichter zu finden sind die Künstler, die Verbindungen der Künste im Schilde führen - oder auch die für die Verbindung von Künsten Verantwortlichen in den Kulturinstitutionen, die ihrerseits verschiedene Künstler zur Zusammenarbeit anstiften oder engagieren - und die allesamt zwar in dem einen, ihrem eigenen Genre vielleicht auf einem sehr hohen Niveau stehen, in den anderen Gattungen aber Dilettanten oder Amateure bleiben. Gerade diejenigen, die als Spezialisten eine Genres - selbstschöpferisch oder Vorgefundenes kreativ verbindend - von den Qualitätsmerkmalen der anderen Gattungen wenig oder nichts wissen, sind skrupellos bei deren affektiv motivierten Miteinbeziehung. Aber auch diejenigen, die an den Nachbarkünsten ein stetiges Interesse gehabt und ihre Wahrnehmung dort ausführlich geschult haben, bleiben aus verständlichen Gründen in ihrer Fähigkeit, deren innere Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen, in der Regel überfordert. Egal auf welchem Gebiet - bedeutende Kunst zu schaffen, fordert außer einer außergewöhnlichen Begabung die Kenntnis der Technik und das Wissen von den mittlerweile sehr komplexen und komplizierten kunstgeschichtlichen Implikationen; darüber hinaus Inspiration und Intuition, wobei letztere wiederum ohne strukturelles Denken das innovativ Unbequeme nicht erfassen und hervorbringen kann. Doch auch Kunstbeurteilung kann auf alle diese Voraussetzungen nicht verzichten!

Deshalb also die kaum vorhandene Berührung der Künste in den Zonen der vermeintlichen Überschneidungen: Der Künstler oder der gebildete Kunstkenner des einen Genres, findet die Art und Weise, wie ein anderes Genre mit "seiner Kunst" verfährt, wie sie dort miteinbezogen und gebraucht wird, problematisch, mißbräuchlich und unkünstlerisch.

 

sechstens

Im Alltag der Gesamtkunstwerkstätten geht es zu wie in einem Selbstbedienungsladen. Jeder nimmt, was er brauchen kann. Kein Text ist sicher vor Vertonung zu Lied oder Musiktheater, das Ballett durchforstet die Musikliteratur, die Bildnerei bebildert die Bücher, durchsetzt entweder den Zeilenfluß oder extrapoliert gar die Protagonisten und Szenen an die Ausstellungswand, die Literaturverfilmung komprimiert gleich das ganze Buch zu einer praktischen flimmernden Ansichtskarte usw. usw. Die Gründe für alle diese Einverleibungen mögen vielfältig sein, oft sind sie einfältig und nicht selten einfach obskur. Warum gerade die Musikschaffenden sich so unerbittlich über Texte hermachen, könnte damit zu tun haben, daß sie die Abstraktheit ihrer "Sprache" letztlich nicht aushalten, und auch "etwas sagen wollen." Als einzig friedfertige Kunst jedenfalls verbleibt die Literatur; sie macht sich nicht über die anderen Künste her, nur über das Leben.

 

siebentens

Jedes dieser neuen Artefakte bestätigt sich selbst den Grund und das Recht seiner Existenz und hat sein eigenes Publikum, das genau die Mischung serviert bekommt, die ihm schmeckt.

 

Rückblende

Als Kurt Weill Mitte der dreißiger Jahre bei seinem Rückblick die Entwicklung der Oper im 19ten Jahrhundert und damit den Zustand des Musiktheaters kritisierte, schrieb er: "Die Oper, Lieblingskind des europäischen Hofes, wurde mehr und mehr zum Eigentum des Musikliebhabers. Sie entwikelte ihren eigenen Stil, kultivierte ihr eigenes Publikum und etablierte so eine unabhängige Existenz. In dieser Form stellt die Musik das bestimmende Element dar; formale Ideen sind weitaus wichtiger als Ideen dramatischer Art; der gesprochene Teil wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt..."(12

Und etwas später: "Das musikalische Theater in seiner heutigen Form besteht auf der einen Seite aus der Oper, die vollkommen vom Drama isoliert ist, und auf der anderen Seite aus der musikalischen Kommödie, d.h. einer handvoll aktueller Ereignisse, die eine Anzahl von Hitliedern umgeben. Ohne diesen beiden ihr Existenzrecht zu bestreiten, denn beide haben ihr Publikum gefunden, kann dennoch gesagt werden, das die Wiederherstellung des echten musikalischen Theaters innerhalb des ausgedehnten Gebietes zwischen diesen beiden Genres stattfinden wird; sie ist seit einiger Zeit schon überfällig."(13

 

achtens

Kurt Weill war mit der Realisierung dieses Musiktheaters künstlerisch überfordert. Zwar sah er selbst in Amerika schließlich seinen Traum erfüllt, vor dem Licht der großen Idee der vereinten Künste aber müssen sich seine Broadway- Ergebnisse verkriechen.

 

neuntens

Die aufregendsten Innovationen auf dem Musiktheater der letzten Jahre sind nicht durch die Autoren, sondern durch die Regisseure verursacht worden. Manche neue Inszenierung eines Werkes konnte zumindest einen Ausblick auf das Denkbare freigeben: Durch ein ungebührendes Auftreten der Figuren, durch intelligente Uminterpretationen der Sinnzusammenhänge, durch aufmerksam machende Brüche und irritierende Zusammenfügungen disparater Elemente, kurz, durch die kreative "Zerstörung" des Alten, entsteht ja auch eine Selbstbefragung des Mediums; und die verlangt dann nach weiteren neuen Lösungsvorschlägen.

 

zehntens

Vielleicht werden diese Fragen doch noch ernsthaft von den erwähnten Künstlern aufgegriffen. Ein Theater der gleichwertigen Künste könnte in der Tat ungemein spannend und großartig sein.

Ich sehe nur zwei Grundwege zu seiner Verwirklichung. Der eine: Ein Künstler allein entwirft Theater. Alle Mittel, die ihm zur Formung seines Theaters nötig erscheinen, schafft er selbst und setzt sie gemäß der vom ihm entwickelten Gesamtstruktur ein. Die Ausdrucksmittel, die ihm fremd sind, läßt er beiseite. Ausdrucksmittel, die er weniger beherrscht als andere, prüft er dahingehend, ob er sie, aufgrund ihrer Authentizität und ihrer der Gesamtform dienenden Originalität, trotzdem einsetzen und verantworten kann. Die aus diesem "Verfahrenszwang" resultierende Einschränkung, erweist sich bei genauerer Betrachtung als immense Chance: Wie außergewöhnlich muß die Form sein, die mit den ganz individuellen Unvollständigkeiten eines Künstlers einen vollständig theatralischen Ausdruck erlangt! Wie innovativ müßte beispielsweise ein Komponist, der eine ausgeprägte eigene Vorstellung von Musik und Text hat, aber beim besten Willen keine vom Aussehen einer Bühne und der Figuren, diese aber zu brauchen glaubt, gerade mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln umgehen, damit eben die "Nacktheit" von Bühne und Figur, das Fehlen optischer Gestaltung, nicht als ein Mangel, sondern als eine Notwendigkeit erscheint. Welchen Gewinn für sein eigenes Können würde er sich durch den Verzicht der optischen Ergänzung von anderswoher verschaffen. Viele solcher aus der Not geborene Tugenden sind vorstellbar, und bestimmt alle hätten etwas Neuartiges mitzubringen. Der andere Weg: Verschiedene kongeniale Künstler arbeiten zusammen. Sie wissen, daß jeder von ihnen für einen Teilbereich verantwortlich und sein Urteil den anderen Teilbereichen gegenüber fraglich ist (siehe fünftens). Sie sind sich der Unmöglichkeit bewußt, von der ästhetischen Wirkung des intendierten Ganzen ein sicheres Wissen haben zu können, lassen sich aber dennoch nicht auf Beliebigkeit ein, sondern organisieren eine gemeinsame Gesamtstruktur, einen intellektuellen Bauplan, der auf das Ziel der Stückaussage ausgerichtet ist. In diesem Plan sind dann auch die "Tabus" festgelegt, Zonen der einzelnen Künste, die von den anderen nicht berührt werden dürfen, ebenso die Zonen der Überlagerungen, Reibungen und gegenseitigen Störungen. Die Künste formen sich parallel und fügen sich nach dem Konsens der beteiligten Künstler ineinander.

Diese beiden Wege haben Grundsätzliches gemein. Es ist klar, daß keine der Künste in einer solchen neuen Theaterform allein die Struktur bestimmt, daß keine einer anderen angefügt und gefügig wird und daß es zwischen ihnen keine wirkliche Vermischung, sondern nur Überlagerungen geben kann. Alle Bestandteile entstehen für das gemeinsame Ganze und bleiben an dieses gebunden. Das heißt, die akustischen und optischen Vorgänge sind festgeschrieben und für jede Aufführung verbindlich (sofern nicht Ad-libitum-Passagen oder Zufälle intendiert sind). Es kann also in der Folge keine Neuinszenierungen geben, allenfalls Interpretationen mit den aus der Musikinterpretation bekannten relativ kleinen Spielräumen. Die bildende Kunst, soll sie denn ein Bestandteil des Theaters werden, muß von allen Künsten die entscheidendste Emanzipation erfahren. Sie wird nicht mehr nur den Spielplatz für die Szene bauen dürfen. Ein Raum ohne Personage wird, solange er lediglich das Erwarten des Auftritts derselben evoziert, immer Kulisse bleiben. Erst wenn die Erscheinung des Raumes allein, die Erscheinung des Lichtes allein ein "Inhalt" des Theaters sein und für eine Zeit die ganze Sensibilität verlangen kann, wenn dies ein Klang allein kann oder eine Musik, eine Figur, ob statisch oder bewegt, stumm oder mit Sprache oder Laut, oder ein Text von nirgendwo, erst dann wird durch das Zusammenwirken dieser Mittel das neue Theater entstanden sein und nicht Musiktheater heißen.

 

(1 Kurt Weill: The Alchemy of Music. Stage. New York, Nr.11, November 1936

(2 Kurt Weill: Typoskript. Weill/Lenya Archive,  Yale University, New Haven. In englischer Übersetzung erschienen mit dem Titel The Future of Opera in America in Modern Music, New York, XIV 1937), Nr.4, Mai/Juni

1937

(3 Kurt Weill: Undatiertes Typoskript ohne Titel.Weill/Lenya Archive, Yale University, New Haven

(4 ebenda

(5 z.B. Die <<Recognitions>>-Bilder von Julian Schnabel, oder die Wortbilder von Cy Twombly, Rémy Zaugg oder Christopher Wool

(6 die Arbeiten von Max Neuhaus

(7 z.B. die Arbeiten von James Turell (reines Licht) oder Dan Flavin (Lichtquelle)

(8 z.B. die Aufbrüche und Sectionen von Gordon Matta-Clark

(9 Die Körperfragment-Karuselle von Bruce Nauman oder seine mit Videoprojektionen und Schall (Sprache) beschickten Räume

(10 Es gibt immens viele verschiedenePerformanceformen; Unter vielen z.B. die schon recht frühen Arbeiten der Wiener Aktionisten, oder die Arbeiten von Nam June Paik oder Joseph Beuys, oder die "Auftritte" von Ulay/Abramovic

(11 besonders bei Joseph Beuys

(12 Kurt Weill: The Alchemy of Music

(13 ebenda

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