Johannes Meinhardt: Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Family Values – Jürgen Palmer / Luc Palmer
am 18. März 2016 in der Galerie Schacher – Raum für Kunst, Stuttgart
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
dass viele Bilder dieser Ausstellung irritieren, liegt vor allem daran, dass sie kaum bildlich lesbar sind, sich kaum einem unmittelbaren pikturalen Verständnis erschließen. Weder lassen sie sich als Bildräume erfassen, die wiedererkennbare Gegenstände umschließen; noch lassen sie sich als abstrakte Kompositionen entziffern, die in einem autonomen System der Bildfläche Farben und Linien als rein pikturale Elemente aufeinander beziehen; noch lassen sie sich als Anordnungen von Einschreibungen der Hand verstehen, deren Spuren expressiv oder energetisch verstanden werden könnten; und ebenso lassen sie sich nicht als demonstrativer Einsatz von Material, etwa von Farbe als Farbmaterie, die fließt und Flecken hinterlässt, definieren. Aber an all diesen unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und -ordnungen haben sie teil; und zwar so, dass sich die verschiedenen Partien und Einsätze innerhalb dieser Bilder widersprechen, sich an unterschiedliche Wahrnehmungsweisen ankoppeln, so dass die Bildfläche keine vorgegebene und vorausgesetzte Einheit mehr ist – auch nicht die Einheit eines Bildes.
Wir haben es also mit einem völlig anderen Verständnis von Bild und Bildfläche zu tun, als das in der historischen Moderne und auch heute meist der Fall ist: ein solches Bild ist keine Einheit, gehorcht nicht einem intentionellen Plan, verwirklicht kein imaginiertes oder gesehenes Vorbild, sondern zeigt sich als widersprüchliches Ergebnis eines komplexen, vielschichtigen Prozesses. Das Bild, das sich in diesem Prozess als ein momentaner Zustand nach vorhergehenden Zuständen zeigt, hat sich in diesem Prozess erst gebildet; die eingesetzten Mittel und vor allem die verwendeten Verfahrensweisen waren keine bloßen Mittel zur Erreichung eines schon bekannten Zwecks oder Ziel ,Bild‘, sondern sie haben in einer Kette von Einsätzen und Entscheidungen das Bild erst hervorgebracht.
Eine erste Voraussetzung für ein solches, ungewohntes Verständnis von Bildfläche und Bild ist, dass keine Bildfläche mit einigender oder synthetisierender Funktion vorgegeben ist; die Bildfläche ist selbst eine widersprüchliche Zusammenstellung von sehr unterschiedlichen Bildräumen, partiellen Bildflächen, Oberflächen, Materialeinsätzen, Einschreibungen der Hand und Materialprozessen. Diese unterschiedlichen Einsätze verknüpfen sich nicht von selbst, etwa, weil sie zu einer einzigen, gemeinsamen Bildsprache gehörten, sondern sie bleiben auch in der Wahrnehmung unterschiedlich oder sogar gegensätzlich, bilden keinen einheitlichen Bildraum oder keine homogene Bildfläche. Für Luc Palmer waren in diesem Zusammenhang Graffiti interessant: mit Graffiti besprühte Wände sind keine Bildflächen, sondern sie werden durch die Tags – was wörtlich ,Markierungen‘ bedeutet – besetzt; die Wände gehören zu einem urbanen Territorium, aber sie bilden auch selbst ein Territorium, das erobert, besetzt und markiert werden kann; die Mauern werden durch diese Markierungen, die Tags, einer Herrschaft zugeschlagen und unterworfen, sie sind der Ort eines immerwährenden Kampfes. Die Tags, Gang- oder pseudonyme individuelle Label, fast immer ausgehend von einem selbstgegebenen Namen, sind selbst schon komplexe optische Einheiten von Buchstaben, Linien, Farben und Schichtungen; sie besetzen die Wände, behaupten sich in der Fläche, erobern Territorien und verlieren sie wieder durch Übermalt-Werden.
Eine zweite Voraussetzung für ein solches Verständnis von Bildfläche ist, dass die eingesetzten pikturalen Elemente schon existieren, unabhängig vom Bild in einem Repertoire vorliegen. Sowohl Jürgen als auch Luc Palmer arbeiten mit einem eigenen Repertoire von ,Bild-Figuren‘ im Sinne der antiken Rhetorik, die teilweise, als Fragmente oder Ausschnitte, aus Medienbildern übernommen worden sind, teilweise aus eigenen Zeichnungen entwickelt wurden. Diese bildrhetorischen Figuren sind durchweg schon selbst auf mehreren Ebenen definiert und werden, wie sehr freie Zitate oder Selbstzitate, quasi collagiert oder montiert. Da aber keine eigenständigen materiellen Träger eingesetzt werden, ist diese Montage faktisch vor allem eine Schichtung von malerischen Einsätzen. Denn das Nebeneinander der in – wahrnehmungslogischer – Spannung zueinander stehenden pikturalen Einsätze oder Figuren geht von selbst in das meist partielle Übereinander von Schichtungen über.
Die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen oder Wahrnehmungsordnungen im Gemälde bleiben dabei im Widerspruch, bis hin zu direkten Gegensätzen: gegeneinander gesetzt werden beispielsweise farbiger Bildraum gegen sichtbaren auf die Oberfläche aufgetragenen Strich; Materialität der Farbe und deren Fließen gegen kompositionelle Zusammenstellungen; einfache Formen gegen scheinbar unmotivierte Handbewegungen; aber auch Materialität gegen Ornament, Bildraum gegen Oberfläche, artikulierte Form gegen formlosen Fleck, transparenter Farbraum gegen harte Oberflächenbedeckung.
Das sichtbare Bild entsteht also in einem Prozess, in dem immer wieder schon existierende Schichten und die auf ihnen artikulierten pikturalen Ordnungen überdeckt oder bearbeitet werden; aber weder in der Weise, dass die tieferen Schichten dabei verschwänden, in eine spurlose Abwesenheit vertrieben würden, noch in der Weise, dass sie – wie in Palimpsesten – durch die darüber liegenden Schichten hindurchscheinen und damit eine reduzierte Präsenz bewahren würden. Denn die Haltung, die Jürgen Palmer, und in etwas geringerem Grad, Luc Palmer gegenüber den schon existierenden Schichten oder den schon unternommenen Einsätzen gegenüber einnehmen, ist eine Art freischwebender Aufmerksamkeit, die vor allem auf Störungen, Abweichungen, Fehler und Schmutz reagiert und diese sogar erzeugt. Beide Zeichner und Maler richten ihr Hauptaugenmerk darauf, die schon bestehenden Ordnungen und Lesbarkeiten im Bild zu unterbrechen; denn alles, was Störung oder Abweichung im Verlauf einer Linie oder in der Fläche ist, was Fehler oder Unsauberkeit ist, etwa die sichtbare Realität der flüssigen Farbe, die suppt oder fließt; alles, was sichtbare Korrektur oder Verbesserung eines Fehlers ist, ist interessant; denn so wird die im Bild vorgegebene Ordnung der Sichtbarkeit gestört und unterlaufen, treten andere, widersprechende Sichtbarkeitsweisen in den irritierten, zur Reflexion auf das Sehen gezwungenen Blick.
Störungen und Abweichungen erzeugen Differenzen im Bild und erzeugen damit ein Mehr an Sichtbarkeit und ein Weniger an Verständlichkeit, Deutbarkeit, Identifizierbarkeit. Solche Differenzen entstehen etwa durch Materialprozesse – die Korrosion von Centstücken durch Grünspan und Rost und damit deren Verfärbung – oder durch die Betonung und Markierung von Fehlern bzw. Abweichungen, beispielsweise bei der unsauberen Übertragung einer aufgeblasenen Zeichnung auf die viel größere Fläche eines Gemäldes. Dabei kann die Wahrnehmungsordnung, von der eine Störung oder Abweichung wegführt, ebenso gut der Kontur von Gegenständen wie eine geometrische Form oder die Identität des Verlaufs eines gestischen Strichs sein. Die Störung bringt so erstens immer einen Aspekt von Antiform oder von Zerstörung der Form mit sich, zweitens nötigt sie zum Sprung in eine andere Wahrnehmungsordnung, und drittens betont sie die niedere Materialität der Farbmaterie und der Verfahrensweisen – sie betont das Korrodieren, das Ausfließen der Farbe; das Unpräzise, Unsaubere, Ungenaue der Einschreibung der Hand; den Fleck, den Schmutz, das Beschmieren der Fläche, das die Farbe zum Schmutz macht.
In einem solchen quasi negativen Prozess, einem Prozess, in dem die Zeichner oder Maler durch Störungen, durch Abweichungen, durch die schmutzige Materialität der eingesetzten Mittel die jeweils schon existierenden Bilder unterlaufen, entstehen neue Schichten nicht aufgrund positiver, etwa kompositioneller Bildentscheidungen, sondern in der Abwehr der bestehenden Ordnungen, in partiellen Abweichungen oder Affirmationen von Störungen. Die tieferen Schichten sind im Bild daher nicht in oder als Spuren anwesend, sondern als Störungen, Abweichungen, Differenzen, die die darüber liegende Schicht motiviert haben. Abweichungen und Störungen sind so nur indirekt sichtbar, in ihrer Wirkung auf den Künstler, und sind weder Spuren noch intentionale Setzungen. Sie entwickeln eine eigene Suggestivität, eine indirekte Suggestivität des Verfahrens und des Prozesses.
Dabei lassen sich unterschiedliche Typen und Einsatzniveaus von Differenzen unterscheiden, die von Jürgen und Luc Palmer verwendet werden:
1. der Schmutz der eingesetzten Materie oder des Materialprozesses – Flecken, Beschmutzungen;
2. Fehler oder Abweichungen in der Einschreibung, im Einsatz der Hand;
3. kontingente und unvorhersehbare Ereignisse, Störungen im kausalen Zusammenhang;
4. Wechsel des Mediums, wodurch der materielle Träger und das Kanalrauschen sichtbar oder hörbar werden;
5. das bewusste Unlesbarmachen, der Wechsel des Codes, die Unverständlichkeit der Schrift: Abkürzungen aus Chat-Verläufen, QR-Code.
Auch das Ausschalten des semantischen Zugangs zum Bild hat den Zweck, das Kunstwerk fremd und irritierend zu machen, es der Identifikation und dem vorschnellen Verständnis zu entziehen. Solche Verfremdung, solches Irritieren, das den Betrachter aus dem Verstehen und der Einfühlung herausreißen will, bricht die gewohnte Wahrnehmungsweise zugunsten einer Mehrheit oder Vielheit problematischer, experimenteller, aktiver Deutungsprozesse auf, und provoziert auf diese Weise eine aktive, ästhetisch erforschende, mehrschichtige Wahrnehmung.
Beispiele für den Wechsel des Codes: Jürgen Palmers Arbeit mit Text, die die extremen Verkürzungen und Symbole aus der Kommunikation in Chat-Rooms, im Internet generell und in SMSs präsentiert; vor allem werden Vokale ausgelassen, Buchstabenfolgen ikonisch verwendet (bis hin zu den Emoticons); „143“ zum Beispiel bedeutet in diesem Code „I love you“ (gemäß der Anzahl der Buchstaben). Jürgen Palmer bringt zusätzlich einen komplexen literarischen Verweis ins Spiel: der Username „Ulyss15“, in einem Dialog-Fetzen aus einem fiktiven erotischen Chatroom, bezieht sich auf das 12. Kapitel von James Joyce‘ Ulysses, das Kapitel der Sirenen. In den Gemälden mit dem Titel „Quick Response Dead“ können die Verteilungen von schwarzen und weißen Quadraten in einem größeren Quadrat von Smartphones ausgelesen werden und geben dann die jeweiligen Titel der Gemälde an: DEAD GOD, DEAD DOG, DEAD SOIL, DEAD WATER; oder in „Landschaft, romantisch“ sogar einen vom Maler verfassten poetischen Satz: „Schnee, so weit das Auge reicht. Graue Flächen vor dem flachen Licht. Spuren von grün, wo ein kranker Himmel abfärbt.“
Solche Abweichungen, solcher Zuwachs an Unverständlichkeit, Rätselhaftigkeit und Nicht-Identifizierbarkeit, solches Fremd-, Dunkel- und Unvertrautwerden fasziniert Jürgen Palmer und evoziert bzw. provoziert für ihn eine eigentümliche, dunkle und begriffslose Erfahrung von Schönheit. Damit stellt er sich in eine Tradition des dunklen Schönen, eine Tradition des Schönen als des Schrecklichen und Überwältigenden, die auf Plato zurückgeht, bei diesem aber noch einigermaßen mit einer entgegengesetzten Vorstellung vom Schönen zusammengeht: das Schöne ist bei Plato einerseits das Intelligible, das hell Leuchtende, Einleuchtende, Transparente, Durchschaubare, in der Idealität des Geometrischen begründet; oder das Schöne ist das Überwältigende, Unbegreifliche, das das Bewusstsein transzendiert und – zumindest bei Plato – seine Wurzel in der Erfahrung des Selbstverlustes oder eines göttlichen Wahnsinns besitzt. Auch für Palmer ist das Schöne – bzw. das Poetische – das, was sich der gewöhnlichen Verständlichkeit entzieht, das Dunkle und Hermetische, das Vielschichtige und Mehrdeutige, das Befremdende und Befremdliche; das aber zugleich präzise artikuliert worden ist.
Die Erfahrung des dunklen Schönen ist eng verwandt mit der Erfahrung der Begrenztheit, Instabilität und Nichtidentität des Bewusstseins und des Subjekts. Die Neuzeit hatte das moderne Subjekt durch seine Identität mit sich selbst und seine Produktivität definiert, die sich um die Kategorien Authentizität, Originalität und Spontaneität herum anordnen. Diese Selbstermächtigung des Subjekts und des Bewusstseins hatte sich die radikale Moderne immer wieder in Frage gestellt; und Jürgen Palmer stellt sich in diese radikal moderne Tradition des Zweifels und der Infragestellung des neuzeitlichen Subjekts, das sich bzw. sein Bewusstsein als Herrn aller Produktion und damit als Herrscher der produzierten Welt sieht. Im Gegensatz zu einem solchen Subjekt, das von Selbst- und Herrschaftsgewissheit durchdrungen ist, überlässt er sich dem Zweifel, der Ungewissheit, der Unbeherrschbarkeit. Ein aktiver Gebrauch des Zweifels ist beispielsweise die Dekonstruktion scheinbar authentischer Gesten – so wenn er eigene Striche vergrößert zitiert, ihren scheinbar authentischen Charakter einer Einschreibungsspur durch sorgfältige oder durch abweichende Wiederholung destruiert. Statt sich als Herrn der Produktion zu definieren, überlässt sich Jürgen Palmer besonders dem situativen Spiel der Reaktionen, der Antworten, der Anregungen: anregendes Gegenüber kann das Gemälde in seinem jeweiligen momentanen Zustand, kann aber auch eine andere Person sein – selbst wenn diese der eigene Sohn ist. Jürgen Palmer hat erst 2014, angeregt durch die Arbeiten seines Sohns und die Gespräche mit seinem Sohn, nach einer langen Zeit, in der er hauptsächlich mit Video und Klangräumen gearbeitet hat, wieder zu zeichnen und zu malen begonnen.