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Amputierte Welt – Spekulationen über die Arbeit von Jürgen Palmer
__ von Hans-Peter Jahn (1996)


__ Amputationen, so sie deutlich erkennbar sind und sich nicht mit Prothesen kostümieren, lösen immer wenigstens zweierlei aus: Betroffenheit als metamorphe Schwester des Mitleids und schweigendes Entsetzen. Dieses Entsetzen wird neutralisiert durch künstliche Natürlichkeit. Der kriegs-, verkehrsverletzte oder fleischverseuchte Mensch – eines Körperteils beraubt – ist eine Lästigkeit innerhalb des öffentlichen Lebensraums ... ein verstümmeltes Individuum unter klinisch polierten Modellen. Die polierten Modelle dulden keine Amputationsvermonsterte, obschon sie solche selber herstellen. Der amputierte Teil bricht in seiner Unanwesenheit in die Zonen des Perfekten und hochgezüchtet Lebendigen ein, denunziert sich selbst durch die Blicke des gesellschaftlichen Spektatoriums. Er ist nach dem operativen Eingriff entweder das kranke, das zerfetzte, das vergiftete Leibesstück, der abgetrennte, der beschädigte oder der alles Übrige schädigende Restkörper.

__ Der Torso oder das Fragment unterscheiden sich vom Amputierten dadurch, daß sie als künstlich Geschaffenes unvollendet, bruchstückhaft gearbeitet sind. Gestaltetes in unvollendeter Form und nicht – wie das Amputierte – als naturhaft Vollkommenes erkrankt und daher widerwärtig ... und in seiner Erkranktheit oder Widerlichkeit abgetrennt vom Ganzen durch die Skalpelle der Zivilisation.

__ In Zeichnungen, in Bildern Jürgen Palmers stellt sich das Amputierte aus, ja oft sind die Arbeiten als Amputiertes überhaupt nur anwesend. Körperliches, flüchtig angedeutete Insignien, oftmals zerbrochen irgendwie irgendwo auf dem Blatt Papier, technische Geräte instabil und funktionslos, Fotografien, zerschnitten als Untergrund oder als collagiertes Element, alles also Reste gegenwärtiger Zivilisation, unbrauchbar gemacht, Reste alter Bilder in neue hineingeklebt und als Chiffren bildmächtig und von ästhetischer Raffinesse. Die Paradoxie, mit Zerstörtem etwas Unzerstörtes darzustellen, ist ein bestimmendes Phänomen der Bilder Jürgen Palmers.

__ Selbst in den noch wenigen Videofilmen – wird der Film-Schnitt nicht zum Perspektivenwandler oder Zeitraffer, sondern zum wirklichen Schnitt. Die »angekurbelten« Bilder reißen ab, werden gelöscht durch ein flimmerndes Schwarz oder Weiß. Die dargestellten Personen bleiben anonym. Sie besitzen und zeigen nur bestimmte Zonen ihres Körpers, mit denen sie haushalten wie autistische Wesen, bizarr und rituell. Und trotzdem strahlt um sie die Aura des Vollendeten und Verklärten.

__ Nun sind solcherart Beschränkungen auf Reste, auf Verstümmeltes oder Herausgeschnittenes nicht prophetischen Interessen zugedacht. Gerade die Schrecklichkeit der dargestellten Zustände erscheint als Dargestelltes mit der Kraft der Zartheit. Kein Bild wirbt also profan für die Rettung der Menschheit, für die Wahrnehmungstiefe von differenzierten Scheußlichkeiten, sondern sie erklären nichts, wollen nichts als das Auge mit den halben Leibern, mit den im Bildraum frei tanzenden Gegenständen konfrontieren. Die Botschaft der Bilder ist botschaftslos. Nur wer die Eigenkraft seiner Einbildungskräfte beansprucht, kann zum Deuter des Ungedeuteten werden.

__ Der künstlerische Umgang mit dem Zerstörten baut aus den Partikeln eine stabile Wirrnis. Palmers Arbeiten zeigen sich als Puzzle, wobei die Teile nicht zusammenfügbar, nicht zu einem einfältigen Ganzen kombinierbar sind, sondern ihre Zweidimensionalität verlassen, indem sie Vordergrund und Hintergrund in vollkommen neuartiger Weise auferstehen lassen, eine Perspektive, die es in der Malerei so nicht gibt. Eine Perspektive der Bruchstücke in der Rotation eines künstlichen Raums.

__ Jürgen Palmers zerbrochene und amputierte Welt ist gerade in dieser Zerstörtheit verstörend schön. Ein Maß an Überschönheit schunkelt fast schon mit den Gesellen des Kitschs. Alles, was nicht schön ist, wird zur landläufigen Schönheit hochgehoben, da aber herrscht eisiger Wind gegen die Evokationen der Sentimentalität. Alles was häßlich genannt wird, ist aufgehellt und gereinigt im Sud und Spielwitz der kaum verschreckenden Farbkombinationen, die mit absichtsloser Absicht bis an das Dekorative reichen.

__ Wenn man so will, ist die künstlerische Kritik an den Zuständen der Zeit in Jürgen Palmers Bildern durch die Negation des Kritischen aufgehoben. Es gibt kein deutlich politisches Zeichen, keinen Aufruhr in den Bildern gegen die herrschenden Systeme, die aus Langweile und Machtfreude zerstören, was ihnen in die Quere kommt. Nichts davon. Kein gewolltes Fanal gegen Ungerechtigkeit und gegen alle anderen Konformismen der Macht. Nichts Utopisches, nichts Moralisches will sich hier etablieren, sondern von allem das Gegenteil. Vielleicht davon mehr das Verlorene, das geheimnisvoll Geheimnislose, die schmerzhaften Rätsel eines allgewaltigen Willens im Existenzbereich der Kreatur.

__ Was bewirkt nun das Fehlen der Teile, die sich das Auge nicht deshalb herbeisehnt, um das Vollkommene zu sehen, sondern vielleicht das Unvollkommene in seiner Gänze? Zuallererst bewirkt es eine fokussierte Ausrichtung auf das Unwesentliche: auf die »unanwesenden« Stellen der Bilder, die durch kaltes Weiß – unbehandelt und uneingefärbt – oder durch fein schattierte Hinter- und Untergründe bedeckt sind, leer und weit. Und dann die darin schwimmenden, zerberstenden, fliegenden, zerbrochenen, versprengten Gebilde. Dieses Verhältnis von bedeckten, also bemalten oder bezeichneten Stellen und den unbedeckten, freien Feldern macht jedes Bild von Jürgen Palmer signifikant, zeigt uns – den Betrachtern – das geheime Konzept, die verwunschene Korrespondenz zwischen Seiendem und Unsichtbarem. Selbst das Insistieren in die privatesten Sphären des Urhebers könnte nichts an Geheimnis einfahren in den Stall der Neugier, etwas einbringen von dem, was die Dichotomie der Bilder bewirkt. Denn sagen wird es Jürgen Palmer nicht ... und wenn er es sagen müßte, wäre es die vielleicht lustlose Formulierung von Begrenztheiten in der Deutung des eigenen Werks.

__ Es gibt in den Bildern Jürgen Palmers eine Sprache, die mit dem Widerspruch zwischen den Darstellungsmitteln und dem Dargestellten spricht. Die auseinanderklaffenden Welten in seinen Werken sind es, die einen Bildraum erzeugen, der spricht. Und dieser Sprache hilft die Diskrepanz zwischen ästhetischer Vorsicht und präsenter Ausschnitthaftigkeit zum Wort. Denn gerade das, was nicht zusammenkommen will, bildet in seiner Konfrontation einen übergeordneten Kontext. Und dieser Kontext ist das Wort ... deutlich artikulierend die Bildtrauer, die beladene Leichtigkeit, die ätherische Grobheit und ... den Wagemut, das Perfekte mit dem Leichtsinnigen zu vereinen. Mit diesen »Worten« sprechen Palmers Bilder. Sie sprechen an den akribisch ausgestatteten Zellen der Verstandeslust vorbei. Sie zielen auf jene Welten im »Innern« der Menschen, die naturwissenschaftlich irrelevant – also obskur – und neurologisch unerforscht – also pathologisch gedeutet sind. Sie zeigen etwas von dem, das hofft, daß etwas über allem Sichtbaren viel unfaßbarer existiert und sie zeigen, daß alles Unsichtbare nur als Amputiertes dieses allgegenwärtig Sichtbaren eine Ab-Bildung erfahren kann ... und als Unvollkommenes auf das Vollkommene verweist.

__ Somit sind Jürgen Palmers Arbeiten auch Wegweiser in undurchdringliche Zonen, dorthin, wo kein Weg, noch nicht einmal ein projizierter Geheimpfad führt: in die Zonen der Begriffslosigkeit. In dieser Eigenheit haben die Bilder etwas Spirituelles. Doch dieser spirituelle Charakter ist »verplombt«. Das Handwerkszeug zur Bilderkenntnis der Arbeiten Jürgen Palmers liegt in den Regalen der Seele. Deren einzige Sprache ist – wie bereits beschrieben – das Bild selbst. Die Bilder in den Bildern Palmers können nur mit Bildern entplombt werden ... eine anstrengende, oftmals bis zur Bewußtlosigkeit zwingende Tat des Sehers.

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