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Jürgen Palmer: villa
Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung am 2.10.2010 von Dr. Werner Esser
(gekürzt)

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__ In seinem jüngsten, 2010 für diese Ausstellung gedrehten Video mit dem Titel Erklärung schlüpft Jürgen Palmer in die Rolle eines ob seines unentwegten Bemühens um Verständnis schon leicht derangierten Explikateurs / Propagandisten / Kunstvermittlers, der redet und redet und doch nichts sagt, weil das Video stumm bleibt und dessen speech, selbst wenn man von den Lippen lesen könnte, nicht zu verstehen ist, weil es sich um „Guaredisch“, wie die Schriftgrafiker sagen, einen Blindtext also, handelt, der den eigentlichen, richtigen, aussagefähigen Text in Gestalt des reinen Schriftbilds vertritt.


__ Dass Jürgen Palmers Maske mit dem Musketier-Bärtchen der Physiognomie eines prominenten, mit den klassischen wie elektronischen Medien gleichermaßen originell sich beschäftigenden Schweizer Kunstwissenschaftlers ähnelt, ist ein aparter Zufall. Die Anspielung gilt vielmehr dem Stifter der Sammlung Domnick, der, wie viele von Ihnen wissen, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg als ‚drehfreudiger Promotor‘ der abstrakten Malerei mit missionarischem Eifer in Vorträgen, didaktischen Filmen, Zeitungsbeiträgen und Büchern die Sache der Kunst zur Sache seiner Person gemacht und den großen Auftritt nicht gescheut hatte. Zermürbt von seinen langjährigen Kämpfen mit öffentlichen Institutionen um eine adäquate Bleibe für seine bedeutende Sammlung, setzte Ottomar Domnick 1967 im Alleingang als Privatier sein überzeugendstes vermittlerisches Statement: wortlos gewissermaßen, doch selbstredend – ein Haus für das stumme Gespräch der Bilder untereinander und das tägliche Leben inmitten von ihnen. Und, wohlgemerkt, für die Menschen ‚draußen‘, draußen in der Stadt: exzentrisch gelegen, will das Haus doch auch eines der Zentren sein im Kulturraum der Großstadt. Das Private und das Öffentliche verschränken sich im Haus Domnick zum konzeptionellen ‚Gitter‘.


__ Genau hier setzt Jürgen Palmer an. Die zentrale Videoarbeit unserer Ausstellung trägt den Titel villa. Es ist eine dreiteilige Wandprojektion, eigens realisiert für diesen Ort, den Gartensaal; sie wird teilweise mit Ton nicht ‚untermalt‘, vielmehr aufgeladen.
__ Palmer geht visuell von den architektonischen Gegebenheiten, der mobilen Ausstattung, den Bildern aus, virtuell aber und insbesondere von der Vorstellung, dass in diesem abgelegenen, von Malerei und Skulptur bevölkerten, von sehr stringenten formalen Prinzipien beherrschten Lebens-, Präsentations- und Repräsentationsraum einmal zwei Menschen wohnten: ein Paar, das beruflich – die Eheleute waren beide Psychiater – in seiner kulturellen Prägung – großbürgerliches Elternhaus – und im gemeinsamen künstlerischen Tun – Greta Domnick besorgte den Schnitt einiger Filme Ottomar Domnicks – aufs Engste zusammengewachsen war. Für dieses imaginäre Paar stehen drei reale Sesselpaare bereit für den Blick ex post auf den gemeinsamen Lebensmittelpunkt. Aber auch Sie, verehrte Besucher unserer Ausstellung, dürfen dort Platz und sich die Zeit nehmen für eine sinnlich-gedankliche Reise ins Ungewisse. In den drei Video-Loops verlassen Außen und Innen ihre Plätze, wandern ineinander. Der in langsamen Kameraschwenks wie zu Untersuchungszwecken abgefilmten Außenhaut des Stohrer- Baus, dessen Hermetik Ottomar Domnick selbst schon angeregt hatte, ihn als Sujet für das in seinem Film „NN“ beschworene ideale Gefängnis zu verwenden, stehen Sequenzen der Innenräume gegenüber, die, teilweise stark verfremdet, sich von der realen Wirklichkeit ablösend, an der Grenze zum Magischen ganz eigene Bild-Wirklichkeiten öffnen. Diese sind gleichsam der Ausgang. Doch wohin?
__ Draußen der Park und seine Skulpturen machen einen Besuch bei der Nacht. Nicht beim ‚Dunkel‘ der Vergangenheit, sondern bei den verheißungsvollen Lichtern einer unbestimmten, sich in diskreten digitalen Manipulationen entziehenden Zukunft. Was wird sein, wenn? Und der nüchterne Tages-Blick? Eine der Video-Sequenzen zeigt Momentaufnahmen des frühherbstlichen Skulpturenparks. Von »Augenaufschlag zu Augenaufschlag«, so der Künstler, verschwindet ein Objekt nach dem anderen, erobert sich das Grün sein Terrain zurück. Festhalten? Was festhalten wollen? Woran festhalten wollen, und wie? Auch ein denkmalgeschütztes Museum und eine auf Ewigkeit gegründete Stiftung werden eines Tages – Futur II – nur Erinnerung gewesen sein. Memento mori also. Doch ohne Larmoyanz. Jürgen Palmer wirft in den Strom seiner Bilder Satz- und Wortfragmente aus den Tonspuren zweier Filme Domnicks, aus „NN“ und aus „Domnick über Domnick“. Er lässt sie, wie Steine auf Wasser, auf der Folie des Visuellen akustische Resonanzwellen schlagen, lässt sie den Frieden stören zugunsten einer wacheren Gegenwart. Film und Klang sind, wie man sagt, „zeitbasierte“ Medien. Welcher ernstzunehmende Künstler würde nicht in seiner Arbeit das Medium mitreflektieren? Das berühmte, unendlich oft zitierte, auf das Fernsehen gemünzte medienkritische Diktum Marshall McLuhans von 1964, »Das Medium ist die Botschaft« war für das Medium der Malerei mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor sehr prononciert und ganz affirmativ durch die französischen Nabis und durch Adolf Hölzel, dem so verdienstvollen Wegbereiter der Abstraktion in Deutschland, vorformuliert worden. »Nicht literarisch denken und arbeiten, sondern aus den Mitteln heraus, ergibt Kunst« [1], heißt es bei Hölzel und später ebenso bei Willi Baumeister, der in der Sammlung Domnick, wie Sie wissen, eine Hauptrolle spielt.

__ Jürgen Palmer würde diesen Satz voll und ganz unterschreiben. Und auch den folgenden, gleichfalls aus Hölzels Feder: »Je mehr wir die Mittel auf ihre Wesenheit bringen, desto stärker wird der Ausdruck sein.« [2]
__ Sowohl in seiner künstlerischen Arbeit als Maler, Zeichner und Grafiker, als Filmemacher und Fotograf, als Bühnenbildner und Schauspieler, als Perfomance-Künstler und Kunstvermittler sowie als Video-Künstler und Sound Artist – diese Sparten-Vielfalt ist Programm! – bei seiner Arbeit also in all diesen Sparten spielt das materielle und strukturspezifische Potenzial der jeweiligen Medien eine gewichtige Gestaltungsrolle. Und es ist hilfreich zu wissen, dass Jürgen Palmer dem Transfer oder der Transplantation eines Mediums in ein anderes besondere Aufmerksamkeit widmet. Zum Beispiel, wenn eine Zeichnung zum Foto wird, ein Foto zum Filmbild, ein Filmbild zum Fernseh- Rasterbild, ein solches zum Video-Bild und letzteres zum Full-High-Definition-Video, um vielleicht eines Tages vom Monitor oder der Projektionswand vom Künstler wieder abgezeichnet zu werden.


__ Sie werden dieses ‚metamediale‘ Verfahren unschwer an dem zweiten Werkkreis unserer Ausstellung, den in die Gemäldesammlung integrierten sechs Monitoren erkennen können. Hier hat Jürgen Palmer filmisches und fotografisches Material aus früheren Jahren elektronisch so aufbereitet, dass das jeweilige Ausgangsmedium – Fotoabzug, Super 8-Film, Video-Tape – in seiner spezifischen Oberflächenbeschaffenheit, Empfindlich- und Verletzlichkeit spürbar bleibt bzw. zum Ausdruck kommt. Das Abstraktum Zeit materialisiert sich darin gewissermaßen virtuell und altert ohne zu vergehen, wie der Dornbusch Moses brannte, ohne zu verbrennen. Und die Schleifen der Zeit, sie schleifen ihre Sujets - Landschaften zumeist und Portraits – durch vielerlei Stadien allmählicher Veränderung hindurch, bilden ein Perpetuum mobile in slowest motion. Wir gewinnen ein Bild, und können es doch nicht halten, allenfalls die Erinnerung davon und die Empfindung. Ist es mit dem gemalten Bild denn anders?


__ Willi Baumeisters Gemälde Wachstum, ein prominentes Werk unserer Sammlung, verändert sich in jeder Sekunde der längeren Betrachtung, wird, um Baumeisters eigene Worte zu verwenden, zum »Gleichnis der strömenden Metamorphose«. [3]
__ Wie eine elektronische Paraphrase auf Baumeisters Bild von 1952 mutet das 100-minütige Video Jürgen Palmers, Landschaft mit Implosion aus dem Jahr 2004 an, in dem ein Baum in zahllosen, mit einer Super-8-Kamera geschossenen Einzelbildern qua Videoschnitt animiert und einem permanenten Metamorphoseprozess unterzogen wird. Diese Parallele aber war nicht gesucht, sondern ergab sich aus einer bildkonzeptionellen Verwandtschaft zwischen zwei Künstlern, die ganz vom Malerischen her denken und dem prozessual Offenen den Vorzug geben vor dem fertig Ausgedachten. Für Jürgen Palmer gilt solche Bildauffassung auch für Texte, sind sie doch nichts anderes als Vorstellungsbilder auf der Leinwand unseres Bewusstseins. So treffen wir bei drei Monitoren - genügend Geduld vorausgesetzt - auf literarische Sequenzen, die, erscheinungshaft aufleuchtend und wieder verlöschend, ein Imaginations-Video in Szene setzen, das vom Abseitigen des Menschen handelt und von jedem Leser-Betrachter in seiner Phantasie in individuellen Stufen von Bizarrerie ausgestaltet werden kann: Wir machen, wir sind das Bild.

__ Ein Drittes muss noch erwähnt werden: der die Ausstellung begleitende Klang. Er ist sowohl ‚ortsspezifisch‘ als auch im oben umrissenen Sinne ‚metamedial‘ wie ‚transtemporär‘. Vor wenigen Wochen hier am Flügel von Jürgen Palmer erzeugt und aufgenommen wurde er, digital im Atelier verfremdet, an den Ort seiner Entstehung zurück gebracht: er ist ein anderer geworden und doch derselbe geblieben. Er geht umher im Haus wie eine Seele, die ihren Körper verlassen hat, vernehmbar nur hin und wieder, doch ständig präsent und beide Ausstellungssphären, die Projektion im Gartensaal wie die Videotableaus an den Sammlungswänden, miteinander verbindend. Es ist die Klang-Seele der ‚Villa‘. Es war viel von Metamorphose und Bild-Transfer die Rede. Auch diese Ausstellung selbst wird sich, so der Künstler, während der drei Monate ihrer Laufzeit verändern: neue Sequenzen sollen in die Gartensaal-Projektionen eingespielt, neue Kombinationen in den Monitor-Loops eingerichtet werden. Auch Aufnahmen unserer heutigen Versammlung sollen in Jürgen Palmers villa Eingang finden. Denn auch eine Ausstellung ist Bild, ist Medium, ist Botschaft.

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1 Zit. nach Lemmé 1933, S. 18
2 Ebd.
3 Baumeister 1947, S. 175

© Dr. Werner Esser 2010

(Dr. Werner Esser war bei Entstehung des Textes Leiter und Kurator der Sammlung Domnick Nürtingen sowie Leiter des Archivs Sohm der Staatsgalerie Stuttgart)

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