schwerin.blindstudie
Claudia Schönfeld, im Katalog Schwerinblicke – Künstlersichten (2010)
Nicht allein Hörstücke gehören zu den Mitteln künstlerischer Kreativität von Jürgen Palmer. Er arbeitet in den Bereichen Rauminstallation, Film und Video, Text- und Theaterstücke und auch Malerei und Zeichnung. In dieser medialen Vielfalt sucht er nicht eine Verbindung der einzelnen Medien, sondern deren scharfe Abgrenzung voneinander.
Der Künstler beabsichtigt, ein Vertonen von Bildmaterial wie Videos und dergleichen oder ein Visualisieren von Klangmaterial zu vermeiden. Er fokussiert auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eine Sinneswahrnehmung, um den optischen oder akustischen Phänomenen gerecht zu werden. Eine Kritik am vorherrschenden Medienkonsum gehört nur auf zweiter Ebene zu seinen Intentionen. Betrachtet man wissenschaftlich die Physiologie der Wahrnehmung, so folgt auf einen objektiven Sinnesreiz durch Geräusche, optische Eindrücke, Gerüche und so weiter ein subjektiver Sinneseindruck. Verschiedene Sinneseindrücke summieren sich zu Empfindungen. Werden diese mit Erfahrungen und der persönlichen Individualität assoziiert, so spricht man von Wahrnehmung. [1]
Um ein Überfluten von Sinneseindrücken und Empfindungen zu verhindern, schränkt das Individuum die Wahrnehmung ein. [2] Dennoch erreichen diese Eindrücke unser Unterbewusstsein. Vor allem beim Gesichtssinn, so Jürgen Palmer, sei das Hören immer als subtiler, jedoch im Hinblick auf die emotionale Wirkung des „Gesehenen" äußerst einflussreicher und weniger beachteter Begleitsinn ständig aktiv.
„Getrennt sind Sehen und Hören nur im Blindsein und Taubsein.“ [3]
Die eigene große Erfahrung im Bereich der Erforschung eines Ortes durch den Gehörsinn [4] erweiterte Jürgen Palmer erstmals für die Arbeit schwerin.blindstudie, indem Frau Waltraut Günzler ihn begleitete und ihm die Welt eines blinden Menschen eröffnete. Als „Sehender" nimmt er akustische Sinneseindrücke nur bedingt auf. Gemeinsam mit ihr erforscht der Künstler Schwerin mit den Ohren und vermittelt diese Eindrücke in einem komponierten Hörstück. Im Gespräch mit Waltraut Günzler geht er feinsinnig ihrer anderen, ganz persönlichen Weise der Wahrnehmung nach, ihrer Orientierung im Raum. Auf der Suche nach der Stadt findet Jürgen Palmer behutsam im Gespräch auch den Menschen Waltraut Günzler in ihrer besonderen Lebenssituation. Der Künstler ermöglicht so dem Zuhörer, sich ebenfalls in den kognitiven Prozess eines Menschen ohne Augenlicht zu versetzen.
Trifft beispielsweise Licht mit der Wellenlänge von 400 nm auf das Auge, so löst es den Sinneseindruck Blau aus. Die Aussage „ich sehe eine blaue Fläche“ drückt die entsprechende Empfindung aus. Die Erfahrung mit dem Medium Wasser ordnet in unserem Geist die Wahrnehmung einer Wasseroberfläche zu. Im Normalfall treffen verschiedenste Sinneseindrücke gleichzeitig bei uns ein, die verschiedenste Empfindungen auslösen, wie Kühle, Rauschen, ein bestimmter Geruch. Diese summieren sich zur Wahrnehmung einer Seeoberfläche. Welche Sinneseindrücke ausreichen, um eine Assoziation auszulösen, ist individuell verschieden. Ebenso ist es subjektiv, welche Sinneseindrücke eine positive oder negative Empfindung auslösen. Manche Art von Musik kann für das eine Individuum als angenehm und wohlklingend empfunden werden, während sie für das andere als ohrenbetäubender Lärm erscheint. Auch die Frage, ob ein Reiz als zu stark oder zu gering empfunden wird, ein Geräusch zu laut oder zu leise, hängt von dem individuellen Grad der Sensibilisierung auf diese Art von Reizen und der Überlagerung durch andere Reize ab.
Das Fehlen eines physiologischen Sinnes bewirkt die Fokussierung auf die jeweils anderen Sinne. Damit verbunden ist eine Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Sinne, da sie nicht von Reizen des fehlenden Sinnes abgelenkt wird. Waltraut Günzler spricht von den Klängen des Kuckucks, die ihre sehenden Bekannten nicht wahrnehmen, mit den Worten: „Aber die Leute sind dann so mit den Augen beschäftigt, das hören sie gar nicht.“ [5]
Beim Fehlen eines Sinnes erkennt man auf eine Art weniger, aber auf viele andere Weisen mehr. Die Allegorie der Gerechtigkeit, Justitia, wird mit einer Augenbinde dargestellt, um symbolisch zu zeigen, dass sie sich nicht vom „Ansehen" täuschen lässt.
Im „Blindsein" ist nicht nur der Gehörsinn gesteigert, sondern auch der Geruchssinn. Waltraut Günzler macht uns in ihren Gesprächen mit Jürgen Palmer auf Gerüche aufmerksam. Der Geruchssinn ist ein Sinn, der uns häufig nur bei entweder besonders angenehmen oder penetranten oder unangenehmen Gerüchen ins Bewusstsein tritt. „Das riecht nach Grün" – Waltraut Günzler macht uns deutlich, dass Farbe eine olfaktorische Komponente haben kann. Sie spricht von bröckeligem Grau im Gegensatz zum neu gemachten [6] und für den Zuhörer gewinnt die Farbe eine Taktilität.
Beim Zuhören erschließt sich langsam auch für den sehenden Hörer der Raum, durch den sich beide bewegen. Er kann die Geräusche mit seiner Erfahrung, mit Bildern verbinden. Das Bewusstsein öffnet sich auf diese Weise einer breiteren Aufnahme der akustischen Eindrücke. Dem Schwerin-Kenner erscheinen optische Bilder wie die Schelfkirche oder die knirschenden Kiesel im Schlosspark, die Wellen, die an das Ufer klatschen, das ferne Schreien der Möwen. Die Städte sehen mit den über die gesamte Welt verbreiteten, immer gleichen Geschäftsketten, in denen die Verkäufer zu den gleichen stereotypen Aussagen angehalten werden, für Auge und Ohr immer gleicher aus. Jürgen Palmer zeigt mit schwerin.blindstudie die akustische Individualität Schwerins. [7]
Ein zentrales, immer wieder kehrendes Motiv der Klanginstallation ist der Schweriner Dom, der durch die Domglocken, den spezifischen Schall im Innenraum, den Klang seiner Ladegastorgel, kontrapunktisch immer wieder im Hörstück auftaucht. Jürgen Palmer hat in den Orgelsequenzen Bruchstücke von Liszt-Stücken aus dem Schweriner Dom bearbeitet. Er hat Einzeltöne und Intervalle isoliert und außerdem in der Tonhöhe und -dauer manipulierte Akkord- und Melospartikel aus ihnen verwandt. Die Partikel wurden von ihm mehr oder weniger stark bearbeitet. Die am weitesten vom Originalklang wegführenden Elemente sind durch so genannte Ringmodulation entstanden. [8]
Der Künstler nutzt bewusst Sequenzen wie sprechende Stadtführer oder das Gespräch mit Waltraut Günzler für inhaltliche Überleitungen. Andere Sprachfetzen, die scheinbar unmotiviert, zufällig erscheinen, tragen zur Dynamisierung des Klangstückes bei. In ihrem hörbaren regionalen Akzent wirken sie wie Zitate, die auf Schwerin verweisen. Crescendo- oder Decrescendo-Partien, die behutsam eine steigende Schmerzempfindung oder eine Entspannung in der akustischen Überreizung markieren, werden gleichermaßen vom Künstler angewandt, um akustisch eine Tiefenwirkung zu transportieren.
In seinem Werk nimmt Palmer Gestaltungskriterien von John Cage auf, wie unter anderem das Inkorporieren von Alltagsgeräuschen in Musikstücke. Jürgen Palmer hat mehrfach am ECLAT Festival für Neue Musik in Stuttgart, das seit Jahren ein Mekka der Klangkunst und neuen Musik in Deutschland ist, teilgenommen.
Palmer bedient sich auch Methoden wie dem Übereinanderlagern verschiedener Klangebenen und dem Einfügen von scheinbar zufälligen Fragmenten. Cage hat solche Prozesse in seiner Arbeit ,Not wanting to say anything about Marcel‘ unter anderem visualisiert. [9] Auf diese Weise stellt Jürgen Palmer neuartige Beziehungen zum John Cage-Sammlungskomplex des Staatlichen Museums Schwerin her.
schwerin.blindstudie hat er speziell für den Saal Neue Medien des Staatlichen Museums Schwerin entwickelt. Der Klangraum versetzt den Besucher in die Situation des „Blindseins" durch eine weitestgehende Verdunkelung und das Verbergen der Klangquellen, ohne ihn zu verunsichern. Das durch das Glasdach strömende Licht ist autonom von der Außenwelt und lässt eine Orientierung nach Sonnenstand oder Wetterverhältnissen nicht zu.
„Eine Stadt akustisch zu porträtieren, allein mit den Klängen und Geräuschen zu komponieren, die vor Ort aufgenommen wurden, reicht mir nicht. Ich suche bei solchen Arbeiten nach einem Ankerpunkt, nach einer zweiten Idee. Im Falle von schwerin.blindstudie war es jene, meine Lust am Hören mit dem Zwang zum Hören zu verbinden, meinen freiwilligen Verzicht auf das Optische mit der Behinderung durch verlorenes Augenlicht. […] Dann lernte ich mit Waltraud Günzler eine offene, interessierte und vitale Frau kennen, und wir hatten schon nach kürzester Zeit einen intensiven und vertrauten Austausch - gleichermaßen über die alltäglichen Dinge wie über die elementaren Lebensfragen. Das Stück widme ich ihr und allen Blinden dieser Stadt. [10]
Claudia Schönfeld
1 Robert F. Schmidt, Gerhard Thews (Hrsg.): Physiologie des Menschen, Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris Tokyo 1987, S. 186ff
2 Vergl., Jim Hamlyn, S. 115, Anm. 1., Larissa Fassler, S. 136, Anm. 5. / Henri-Louis Bergson: Time and Free Will, An Essay on the immediate Data of Consciousness, London New York, 1941, p. 51
3 Jürgen Palmer
4 u.a. Jürgen Palmer: Klanginstallation Landschaft mit Rems, parallel zur Ausstellung John Cage: Kunst = Leben, Galerie Stihl Waiblingen, 14. Juni bis 20. September 2009, Pressemeldung
5 Zitat Waltraut Günzler in schwerin.blindstudie, 4'10"
6 Zitat Waltraut Günzler in schwerin.blindstudie, 57'00"
7 S. Jürgen Palmer, Waltraut Günzler in schwerin.blindstudie, 41'30"
8 Auskunft Jürgen Palmers
9 S. Nicolas Manenti, S. 111
10 Jürgen Palmer
Claudia Schönfeld ist freiberufliche Kunsthistorikerin, hat in Freiburg und an der Université de Paris X Kunstgeschichte studiert und ein wissenschaftliches Volontariat im Staatlichen Museum Schwerin absolviert. Schönfeld hat zahlreiche Ausstellungen sowie museumpädagogische Programme wissenschaftlich begleitet bzw. kuratiert, darunter die Jubiläumsausstellung „Schwerin-Blicke“ zur 850-Jahrfeier Schwerins und die Ausstellung „Oudrys gemalte Menagerie“ im Staatlichen Museum sowie „Goya – die graphischen Zyklen“ und „Leonardo da Vinci – genialer Erfinder und Konstrukteur“ im Schleswig-Holstein-Haus.