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Blumen des Bösen

Blumen sind ein heikles Sujet. Und so verstehe ich auch den Titel der Ausstellung „Schönheit lauert überall“ als Warnruf.

Die Blume ist beliebtestes Motiv in Aquarell- und Seidenmalkursen, soll als post-zu-spät-expressiv-gepinseltes Blütenmotiv beim Zahnarzt heiteres Vertrauen und Entspannung einflößen, langweilt von Millionen Geburtstags- und Osterkarten herunter und lässt sich fix und fertig gerahmt und verglast kurz vor der Kassenschlange noch als letztes auf den Ikeawagen stapeln. Kurzum, die Blume landet als Motiv mit ziemlicher Treffsicherheit im Abseits des seicht Dekorativen. Ich habe nur spaßeshalber in die Google-Bildersuche die Sentenz „Blumen in der Kunst“ eingegeben – es kann einen gleich der Schlag treffen.

Die Geschichte der Blumenmalerei, von den Blumenstillleben des Barock über die wunderbaren Aquarelle der Maria Sibilla Merian zu den Farb- und Lichtexplosionen der Impressionisten, weiter zu Henri Fantin-Latour, der mit seinem Realismus gegen jene Widerstand leistete, zu Vincent von Gogh, der den Sonnenblumen geradezu Skulpturales abgewann, Emil Nolde, der Blütenhaftes in expressiv-sinnliche Farbschlachten verwandelte – begleitet von pathetisch-selbstverliebten Kommentaren übrigens –, weiter zu Georgia O'Keeffe, die die Sinnlichkeit der Blüte in den formatfüllenden Fokus rückte und darin vaginale Formen entdeckte, bis schließlich zu Andy Warhol, der mit seiner über 1500 Farb-Variationen umfassenden Blumenbild-Serienproduktion das Motiv als Bildungsbürgertapete entlarvte… dieses Gepäck muss man kennen, wenn man dem Thema noch etwas künstlerisch Relevantes abgewinnen will.

Und wer dies heutzutage mit der Kamera machen will, dessen Gepäck lastet noch viel schwerer, denn er muss sich nicht nur in den Vergleich mit der Malerei setzen, sondern auch mit der Fotografie vor ihm – sei es die des Karl Blossfeldt oder des Edward Steichen – um nur zwei zu nennen. Dazuhin hält er ein Werkzeug in den Händen, das von Haus aus „objektiv“ arbeitet, also nicht für die Transformation des Motivs vorgesehen ist – Naturkundebücher gingen ihres Zaubers verloren, seitdem man die liebevoll gezeichneten Illustrationen durch Fotos ersetzt hatte.

Die Blume teilt ihr Schicksal mit dem Sonnenuntergang. Als Naturphänomen mit großem Berührungspotential für die menschliche Seele, tabuisiert sie Ihre fotografische Abbildung. Aber der fotografische Wahn grassiert und wirkt sogar auf die Wahrnehmung des Naturphänomens zurück, weshalb mittlerweile von kitschigen Sonnenuntergängen per se  geredet wird.

Es liegt also ein Minenfeld zwischen diesen Naturerscheinungen und ihrer Abbildbarkeit, über das auch ein Profi erst einmal heil hinwegkommen muss. Auch der berühmte Robert Mapplethorpe hat das nicht vermocht, und seine ikebanaartig und völlig ironiefrei für die Kamera inszenierten Lilien sind absolut ikea-kompatibel.

Ja, es braucht schon so etwas wie kritische Reflexion, Ironie, einen Ansatz von Persiflage, Brüchigkeit, wenn man nicht in die Falle der Kitschproduktion geraten will.

Die Blumenbilder der Anne Schubert schaffen diese Gratwanderung. Sie sind für mich wie ein zerbrochener Spiegel. Wenn ein Spiegel in Scherben geht, werden die einzelnen Scherben zu Facetten. Jede einzelne Facette zeigt einen Teil des zerbrochenen Spiegelbildes in einem anderen Winkel, und wenn man es vermag, die einzelnen Facettenscherben beim reflektierenden Betrachten wieder zusammenzusetzen, gelangt man zu einem Gesamtbild, das umfassender und reichhaltiger ist, als jenes, das der intakte Spiegel zu zeigen vermochte.

Das Stillleben wird in anderen Sprachen „tote Natur“ gennant – z.B. im Französischen „Nature Morte“. In diesen Bildern hier ist er stets anwesend, der Tod: Kaum einmal taucht eine Blüte auf, der man den Prozess des Verwelkens, des doppelten Todes (zuerst abgeschnitten, dann allmählich verschrumpelnd) nicht ansehen würde. Auch die Insekten haben ihr Leben hinter sich, und so schwingen Memento mori – der Gedanke zu sterben – und das Vanitas-Motiv – die Ermahnung bezüglich Eitelkeit und leerem Schein – stets mit, allerdings eher als mit leichter Hand vorgetragenes Zitat, denn als ernster Gegenwartsbezug.

Das delikate Licht weist zurück bis eben zur Malerei des Barock, und die Detailversessenheit der Darstellung spielt auf die höchste handwerkliche Könnerschaft der Lasurtechnik an, die in den zahlreichen Schichtungen von der tiefsten Dunkelheit bis zum Lichtreflex die Gegenstände geradezu aus der Nacht schält. Die Art des Arrangements allerdings findet ihre Dialogpartner eher in der modernen Malerei des 20ten Jahrhunderts. Denn im Gegensatz zum wohlgesetzten Arrangement des Barock-Stilllebens, scheint auf diesen Nachfahren das Chaos zu regieren. Wo ist die ordnende Hand, die für den ausgewogenen Rhythmus, den Wechsel von Spannung und Entspannung, Schwerpunkt und Zwischenraum sorgt?

Sie ist da, aber in der Wahl ihrer Entscheidungen komplexer und schwerer zu durchschauen. Vor der Kamera findet das Gegenteil von Ikebana statt: Nicht der wohl ausgewogene, tief empfundene Zusammenklang weniger Elemente, sondern das verwirrende Zusammenspiel dutzender oder hunderter Einzelentscheidungen, die sich zu einem großen Ganzen fügen und in scheinbarer Zufälligkeit und makrokosmischer Unruhe eine Vielzahl an Ordnungen und Bezügen zu entdecken ermöglichen:

Einzelne Teile (Blüten, Blätter, Insekten, Stengel) oder gar deren Bestandteile (ein Staubgefäß, eine Maserung, der Bruch eines Stängels), unmittelbare Nachbarschaften (Zugeneigtheit, Abgewandheit, Überlappung), ferne Relationen, die Linien und Netze bauen oder das ganze Bild… die Betrachtungsmöglichkeiten sind vielfältigst. Vor allem auf den dichteren Bildern lässt sich schier endlos entdecken, und dem Gedankenflug wird ein famoser Startteppich bereitet.

Ich erkenne sogar, dass sich zwischen dem glänzenden, kleinen Totenschädel – den ich in seiner fast niedlichen Spielzeughaftigkeit auch als Persiflage lese – der plattgedrückten und schwarzgetrockneten Kröte und der Libelle, die sich der fleischigen Öffnung der größten Rose im Bild annähert, ein Goldenes Dreieck aufspannen lässt (ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem das Verhältnis von Schenkel zu Grundseite Phi ist), und es drängen sich mir gleichermaßen Ideen von der perfekten Geometrie und Schönheit der Schöpfung wie auch von Sexualität und Entstehung des Lebens und dessen Ende durch den Tod auf.

Ob hinter dieser und anderen formalen Entdeckungen Kalkül oder Intuition der Urheberin stecken, finde ich übrigens nicht entscheidend.   

Schönheit – jetzt ist das Wort über die Lippen. Ein Begriff, der wie ein Geist umherirrt und keine Ruhe findet… auch ein geschmähter Geist.

Peter Handke beginnt seinen „Versuch über den geglückten Tag“ mit der Herbeirufung eines Selbstbildnisses des Malers William Hogarth im London des 18. Jahrhunderts. Auf der Palette des Malers liegt eine sanft geschwungene Linie, die sogenannte „Line of Beauty and Grace“ – Linie der Schönheit und der Anmut. Und er fragt sich später im Buch: „Entspricht es nicht unsereinem jetzt, daß solch ein Gebilde immer wieder abbricht, ins Stottern, Stammeln, Verstummen und ins Schweigen kommt, neu ansetzt, Seitenstrecken nimmt – dabei jedoch zuletzt wie eh und je auf eine Einheit und etwas Ganzes hinzielt?“

Schönheit in der künstlerischen Ausdrucksform ist ohne die Berücksichtigung der Zerstörung und Brüchigkeit enthaltenden Wahrheit nicht möglich – oder sie zeigte sich eben als verlogene Idealisierung – als reiner Kitsch.

Die Linie auf William Hogarths Palette ist eigentlich gar keine pure Line. Sie hebt sich teilweise von ihrem hölzernen Grund ab und wirft dort, wo sie sich noch oben wölbt, zarte Schatten. Fast eine lang gezogene Lanzette, die sich anfassen und aufheben ließe. Vielleicht spielt der Maler hier auf die Illusion der Räumlichkeit an, einer Räumlichkeit, die unser Auge durch Täuschung auf einem zweidimensionalen Bildgrund zu sehen glaubt. Seit der Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance und bis zu Ihrer Zerstörung durch Kubismus und Expressionismus beherrschte diese Täuschung die Kunst der westlichen Hemisphäre. Die moderne Malerei –  Farbfeldmalerei oder abstrakter Expressionismus – fordert das Bekenntnis zur flachen Leinwand, auf der sich flache Ereignisse abspielen. Aber für die Fotografie bleibt die Illusion des Raumes ein Selbstverständnis, denn die vordringlichste Eigenschaft eines fotografischen Apparates besteht nun einmal darin, den Raum vor ihm mittels einer Linse auf ein flaches Medium zu projizieren. Und das geschieht perfekt und ohne dass jemand mit Rastern und Hilfslinien die Verkleinerungsfaktoren berechnen müsste.

Auch die Bilder von Anne Schubert machen da keine Ausnahme – der Apparat funktioniert wie immer. Allerdings greift die Fotografin vor der Aufnahme in die Dimensionen des Sujets ein und zwingt es in Richtung Fläche. Sie treibt auch damit ein Spiel mit Verweisen (es ließe sich auch an die gepressten Blüten in einem Poesiealbum denken, auch wenn hier noch etwas Spielraum herrscht), sie schlägt dem Vorgang der Projektion ein Schnippchen und dreht das Verhältnis um: die Negierung des Raumes auf der Fläche der modernen Malerei, die man der fotografischen Optik nicht aufzwingen kann, zwingt sie dem Objekt vor der Kamera auf, betreibt also zuerst eine Art von „Materialmalerei“, bevor sie den Auslöser drückt und landet dabei noch ganz nebenbei einen Seitenhieb gegen die allzu netten Gepflogenheiten der Floristik.

Durch einen eigentlich einfachen Trick übrigens: die Bilder sind für die Vertikale gedacht und gemacht und suggerieren dort ein gewohntes Oben und Unten, die Arrangements liegen bei ihrer Aufnahme aber in der Horizontalen und verlieren durch die Schwere ihren Teile an Tiefe. So werden sie – als Fotografie wieder aufgestellt – zur Hecke, zum Wandteppich, ja sogar zu einem Blumenstrauß in der Vase, der seiner Vase wie durch Zauberhand verlustig ging und sich nicht recht an die Regeln der Schwerkraft und der Perspektive halten will. In der Malerei wäre das keine große Auffälligkeit, festgehalten aber durch den unbestechlichen Apparat ist es eine „Verrücktheit“.

Die Klugheit, mit der die Fotografin dem Motiv der Blume zu Leibe rückt, schafft also genau jenen Facettenreichtum, der über Motiv, Bildgeschichte, Malerei, Schönheit, Leben, Tod und den fotografischen Akt selbst reflektiert – und das ohne jeden dogmatischen Impetus, sondern mit Sinnlichkeit und spielerischer Leichtigkeit – und macht die Betrachtung der Bilder nicht nur zum ästhetischen, sondern auch zum intellektuellen Vergnügen.

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