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Protokoll der Begrüßungsrede von Ben Tolsky / 25. Mai 2018
(Niederschrift nach einer Videoaufzeichnung)

Guten Abend,

ich muss gestehen, dass ich mit den Gegebenheiten dieser Galerie nicht genügend vertraut war. Man hatte mich um eine kurze Rede gebeten. Kurz – das ist für mich fünfundzwanzig bis dreißig Minuten. Aber man hat mich kurzfristig aufgeklärt: acht!

Acht Minuten … das ist Sport. Acht kann ich nicht versprechen. Aber das hier hat überhaupt keinen Sinn … ich lege mein Manuskript mit fünfundzwanzigtausend Zeichen beiseite und spreche frei zu Ihnen.

Ich erzähle Ihnen von meinen persönlichen Erfahrungen mit dem Urheber dieser Werke – vielleicht kann ich wenigstens einige der Gedanken, die mir angesichts seiner Arbeit durch den Kopf gehen, in den Raum hängen.

Kennengelernt habe ich Jürgen Palmer 1992 in Venedig – unter denkbar merkwürdigen Umständen. Beim Abendessen in einem kleinen Restaurant auf dem Campo Santa Margherita. Ich hatte mich verschluckt – eine Gräte, ein Brotrest… was weiß ich – und dieser Mensch springt vom Nebentisch auf, packt mich von hinten unter den Achseln hindurch und reißt mich mit ordentlichem Druck auf meine Brust vom Stuhl hoch. Ich vermute, dass ich mich auch ohne Hilfe und vor allem ohne dass mein Hemd versaut worden wäre hätte frei husten können.

Aber… : Aus dieser Initiation ist eine Freundschaft erwachsen, die bis heute anhält, obwohl wir uns nicht häufig sehen. Die Antwort auf meine Frage, was er in Venedig mache, war übrigens: Er wisse es noch nicht, sei erst am Morgen angekommen und habe den ganzen Tag auf dem Geländer der Scalsi-Brücke sitzend zugebracht.

1997 sind wir uns zufällig in Rom wieder begegnet. Ich studierte in einer Klosterbibliothek im Trastevere-Viertel historische Texte über den Baumeister Francesco Borromini. Am Abend fand sich eine Gruppe Kunstreisender aus Deutschland zu einem Vortrag ein. Palmer sprach über Giordano Bruno, sprach über den Begriff „Idiot“, definierte den als arglosen Sendboten, der von der Gesellschaft ausgespien werden müsse, und subsumierte darunter neben Bruno gleichermaßen Figuren wie Jesus und Lao Tse – aber auch verfemte Künstler und Dichter. Schließlich bot er dem Publikum für 150.000 Lire ein sogenanntes Objekthemd an, T-Shirts mit einem Aufdruck über der Herzgegend: „sono il tuo oggetto“ – also „ich bin dein Objekt“.

Bald danach habe ich meinen ersten Text über seine Kunst geschrieben: „Das Netzwerk des Idioten“. Zuvor hatte ich einige Bilder gesehen, auf denen hochkant in Großbuchstaben gemalt tatsächlich nur das Wort IDIOT stand.

Ich halte es für wichtig, von den Aktionen und Aufführungen Palmers zu wissen – besser natürlich, sie erlebt zu haben –, weil sie zur einigermaßen vollständigen Sicht auf ein vielseitiges und kontrast­reiches Werk einfach dazugehören. Man versteht dann einfach besser wie der Mann tickt.

Einige Beispiele:

Zum Orchesterstück Tabula Rasa von Arvo Pärt wurde bei einem Festival für neue Musik Palmers drastischer Film über das Sterben einer alten Frau im Krankenhaus gezeigt. Mindestens die Hälfte des Saales hätte den Urheber nach der Aufführung am liebsten – nun ja… gelyncht wäre vielleicht zu viel gesagt – aber in die Richtung ist es schon gegangen.

In einer Nacht der Utopien forderte er ein Ende der Reproduktion von Kunstwerken, verlangte Michelangelos Fresken in der Sixtina verwittern zu lassen und verteilte am Ende Blätter mit poetischen Kurzformen wie: „Ein Pferd / reglos / Regen“. Der anwesende Ästhetik-Professor Bazon Brock nahm ein Blatt mit den Lippen entgegen. Die Presse schrieb, der Professor habe dem Künstler aus der Hand gefressen.

In der Stuttgarter Staatsgalerie hielt er einen Vortrag mit dem Titel „F wie Fälschung“, in dem er die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu schrieb und etliche Exponate der Sammlung als gefälscht entlarvte. Am Ende zerriss er zwei vermeintlich wertvolle, aber gefälschte Matisse-Zeichnungen. Verstörte Anrufe beim Direktorat waren die Folge.

Hunderte Menschen wurden auf einem umgebauten Frachtschiff stundenlang durch theatralische Inszenierungen entlang des Hölderlinflusses getragen und erlebten unter anderem einen Pulk einmotoriger Flugzeuge, die in erstaunlich geringer Höhe über zwei Rockgitarristen kreisten. Der auf- und abschwellende Motorenklang der Flieger und das verzerrte Geschrei der E-Gitarren verbrüderten sich zum Nachhall des letzten Krieges.

In Schwerin lebte Palmer wochenlang mit einer blinden Frau zusammen, befragte sie zu ihrer Dunkelheit, ihren Gedanken und Träumen und präsentierte mit „schwerin.blindstudie“ im Obergeschoss des Museums einen gänzlich schwarzen Klangraum, in dem nur eine Kohlefadenlampe und ein Spiegel dem Sehenden etwas zu sehen gaben.

Solche Aktionen, Camouflagen und Inszenierungen darf man bisweilen spektakulär nennen – provozierend… auch gesellschaftskritisch.

Und dann – die Exponate in den Ausstellungen: reduziert, eingedampft – eher still, nie schrill, farblich meist an der kurzen Leine gehalten – oft den langen Blick fordernd. Auch die Videoarbeiten – häufig zum Verstummen gebracht, die Filmbilder bis zum Stillstand gedehnt.

Kein direkter Bezug zu gesellschaftlichen Phänomenen, keine offensichtliche Kritik. Dazuhin verschiedenen Stilmittel, ja Widersprüche.

Die Verweigerung einer stilistischen Festlegung liegt schon in den Anfangsjahren. Nach dem Studium herrscht noch die Figuration vor – die großen Männerbilder stehen den neuen Wilden nah, aber doch eher am Rand der Bewegung: differenzierter, gedeckter, intimer.

Aber schon bald entstehen parallel abstrakte Bilder und Zeichnungen – von delikat ausgeführt bis scheinbar spröde ausgedünnt und die ersten Textfetzen tauchen in Bildern auf. Es entstehen Super8- Filme, und mit der ersten Handy-Cam auf dem Markt beginnt die Arbeit mit Video.

Ein Wechsel und eine Vielfalt, die bis heute anhalten.

Palmer sagte mir einmal, Stil sei für ihn keine Frage des Sujets, der Technik oder der Klamotten, sondern eine Frage der Haltung. Er scheint sich auf keinen Stuhl zu setzen, sondern die Zonen zwischen allen Stühlen ausloten zu wollen.

Lange Zeit hat der Mann der Malerei den Rücken gekehrt, zahlreiche Leinwände vernichtet und nur noch gezeichnet, mit Video, Klang und Performance-Formen gearbeitet.

Jahrelang war er ausstellungsabstinent, schickte aber abseits der Öffentlichkeit 40 Abonnenten seiner sogenannten Blackbox unregelmäßig Arbeiten auf Papier mit der Post – insgesamt über 4000 Unikate. Die Abonnenten – so auch ich – hatten nur wenig zu bezahlen, kauften aber die Katzen im Sack.

Dieses Verhalten ist verwirrend und unpraktisch und für die Vermarktung allerdings nicht die beste Strategie. Wer auf ein Pferd setzt, möchte auch, dass es in der Spur läuft und vom Tribünen-Sitzplatz aus erkennbar bleibt.

Aber dieser Mensch scheut gemähte Wiesen. Er hat nahezu jedes Medium genutzt, ist nahezu jedem Medium untreu geworden und liefert in keinem offensichtliche Einheitlichkeit.

Mag der Ursprung dieser Vielfalt einfach in einem breit gefächerten Interesse liegen (verschiedene Medien können schlicht verschiedene Aufgaben erfüllen), so sind die Sprünge, Wechsel und Regelverletzungen schon bald zum künstlerischen Prinzip geworden – zur kritischen Befragung der Medien selbst.

Der Kunsthistoriker Holger Lund schrieb einmal, Palmer traue den etablierten Medien nicht und evakuiere Parameter aus dem einen in ein anderes hinein, um ihrer drohenden Erstarrung zu entkommen.

In der Tat findet man solche Evakuierungen oder Transfers oft:

Auf Leinwänden breiten sich Zeichnungen aus, ziehen Worte und Texte ein oder fordern unnötig malerische Codes die digitale Entschlüsselung von Text. Manche Videos bieten ebenfalls nur noch Texte an. Andere Videos oder Fotografien geben sich hingegen wie Gemälde. Es gab gemalte Bilder oder Fotografien, die wie Video-Stills aussahen – die Videos dazu existierten aber gar nicht… und so weiter.

Regelbrüche, Wechsel und Vielfalt sind also strategisch und hinterfragen die Definition dessen, was jeweils ein Medium ausmache und vermöge.

Sie sind aber sicher auch Mittel gegen den Klebstoff des Alltags – auch des Kunstalltags… Mittel gegen Langeweile und Routine. Routine bestätigt zwar das Behauptete, mündet aber in Stillstand und Tod.

Für Jürgen Palmer ist die Diskontinuität vielleicht auch eine Selbsterhaltungsmaßname. Sicher ist sie die ständige Suche nach der Selbstüberraschung, nach dem Unberechenbaren und dem Merkwürdigen. Als ob es immer eine dritte Tür zu finden gälte, wenn man sich zwischen zwei Türen entscheiden zu müssen glaubt – ein Ausweg ins Unbekannte.

Auf den Spannungsfeldern des Widersprüchlichen, das sich auch in Gesprächen äußert, wenn er z.B. von „präziser Ahnung“ spricht oder von „tragischer Leichtigkeit“… auf diesen Spannungsfeldern erheben sich wie beschworene Geister die Fragen, die auch dem Betrachter die dritte Tür offerieren… ein Angebot, das allerdings nicht mit großer und offener Hand dargereicht wird – eher hinter dem Rücken.

„Catch me if you can“, scheint Palmer zu denken und damit sich selbst und den Betrachter am Leben zu halten.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Mittel, trotz der vielen Facetten, die sich seit den 1980er-Jahren ausgebildet haben, glaube ich mittlerweile ein Werk von Jürgen Palmer in der Menge erkennen zu können. Allen ist ihnen eine gemeinsame Seele eigen – ein zutiefst ernsthafter, bisweilen melancholischer, auch zart mit Humor geschärfter, vor allem aber poetischer Nukleus. Eine Poesie, die das Amt der Kommunikation verweigert, sich ständig infrage stellend mit sich selbst spielt und dadurch erst zum Prüfstein für die Wahrnehmung von Welt wird. Dafür braucht sie eben die Chiffrierung, das Rätsel und den Widerspruch, der den Widerspruch zum Weltgetriebe manifestiert.

Aus diesem Kern gedeiht in den – sagen wir: „Performances“ die große und erzählerischere, in den Ausstellungsexponaten die intimere Form.

Immer wieder ein Fragment – Versatzstück aus der sichtbaren Welt, wenn auch abstrahierend zugerichtet – in der Regel zentral fokussiert, oft verloren im Raum der physischen wie psychologischen Leerstellen. Keine oder nur scheinbare Ausgewogenheit.

Das Gleichgewicht zwischen Steingewicht und Möglichkeitslicht entpuppt sich als nachhaltiges Dilemma. Der verlockende Diskoglitzerglanz kaschiert nur vom All aus gesehen eine zerbeulte Sphäre. Von nah entlarven die Platzer und Patzer von Glas und Kleber die Blüten des Krebses, wachgeküsst durch den Reflex eines alternden Lichts auf der Haut brackiger Ozeane. Die Hasen der christlichen Dreifaltigkeit sind einander mit den Köpfen zugewandt und legen jeweils ein Ohr kongruent auf das des Nachbarn – ein perfektes Dreieck umschließend. Aber diese hier haben den Kontakt verloren, schlappen frei im Raum, und ihre Comic-Augenkreuze weisen sie als bewusstlos aus… oder als tot – tot wie der Vogel und der Dichter, die hinter den Quadraten der QR-Codes begraben liegen.

Aber das ist alles überhaupt nicht tragisch. Eher lakonisch.

Geschleifte Organinstrumente geben sich dekorativ und weisen doch für´s Dekorative zu viele Makel auf. Ornamentales, das aus Häkelmustern stammen könnte, verhält sich wie ein gigantischer Stempel – pseudoheraldisch und antiheroisch. [Gemurmel – unverständlich …]

Jetzt sind mir die Pferde durchgegangen.

Ich kann gleichermaßen einem intellektuellen Spiel wie einer ausgefuchsten Ästhetik folgen, die im Verbund zwar immer diese Skepsis vermitteln, aber eben auch den Glauben an die Kraft der Kunst… auch an eine Möglichkeit von Schönheit – wenngleich von Rissen und Sprüngen durchkreuzt, zerkratzt und facettiert.

Dass immer wieder das Motiv des Spiegels auftaucht, ist paradigmatisch. Der Spiegel – zerbrochen, zerschnitten oder mattiert – steht für das, was Reflexion sein kann: Konstruktive Infragestellung, die keine Entsicherung scheut.

Nicht nur diese gemeinsame Seele vernetzt die einzelnen Posten, sondern auch die Lust an Bezügen. Bezüge zwischen Arbeiten über die medialen Gattungen und über Jahrzehnte hinweg.

Die Frage wie ein Selbstportrait noch zu malen sei, führte in den frühen Bildern zu diesen solitären Männer-Figuren, die sich keinen Deut um physiognomische Ähnlichkeit scherten, sondern allein die Befindlichkeit einem im unklaren Grund steckenden Leib einverleibten.

Viele Jahre später entsteht ein Selbstportrait über eine Art Transferkette: Eine Zeichnung, die der Sohn des Künstlers als Siebenjähriger vom Vater angefertigt hatte, als dieser selbst gerade am Zeichnen war, wird vom Portraitierten in ein Ölbild zurück-übersetzt.

Ein weiteres Selbstportrait zeigt nur noch die Anfangsbuchstaben des Künstlers als eine Art gestanzte Plakette im rosa Raum – ein Brandherd, von dem öliger Qualm aufsteigt.

Auch die Signatur, die auf den Leinwänden selbst seit Jahrzehnten nicht mehr erscheint, wird mit Jahreszahl zum Selbst-Bild. Sorgsam imitiert sie den Schwung des kleinen Originals – appliziert auf den zufälligen Flecken des Staffeleilappenuntergrundes.

[Einige Worte unverständlich]

Und diese Punktebilder? Man kann sich ja schon fragen, was den Mann dazu bringt, dermaßen viel Aufwand in das Malen von Punkten zu stecken, zumal Punkte in der Malerei ja nun wirklich nicht wenig gängig sind. In diesen Punkten sehe ich eine Art Kondensat der Reflexion über die Malerei selbst.

Wenn sie zu wenigen auftreten: Markierungen zur Gliederung einer Fläche, zwischen denen sich Kompositionslinien spannen, Grenzposten einer Minimierung von Malerei am Übergang zum Niemandsland der Leere, jeder Punkt von zen-hafter Kontemplation … und wenn sie sich häufen: wabernde Felder, Universen, schwarze Sterne, Einschusslöcher, Wundmale, Reflexe aus moosigen Tiefen… scheinbar in stumpfem Gleichmaß aufgetragen, aber voller individueller Abweichungen – darunter Störenfriede und Ausreißer.

Der einfachste Bestandteil, ein gefärbter Punkt, wird zum Element einer komplexen Grammatik, zum Kondensationspunkt und Startpunkt – das Punktebild zur Besinnungstafel.

Ich glaube, ich habe genug geschwätzt.

Vielleicht eins noch:

Die Idee frühe Arbeiten mit jüngeren zu einer Art Selbst-Spiegelung über die Zeit zusammen zu bringen, ist auf meinem Mist gewachsen. Man hat mir einen Gefallen getan. Ich konnte in den letzten Tagen und Stunden meine Gedanken und Beobachtungen vor Bildern verifizieren, die ich zum größten Teil noch nicht im Original gesehen hatte.

Ich rechne übrigens mit weiteren Überraschungen.

Ich bedanke mich dafür.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen schönen Abend.

Vielleicht sind Sie so nett mir ein Taxi zu rufen.

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