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Auflösung der Zeit

Eine persönliche Betrachtung der Filme von Josh von Staudach

Von Jürgen Palmer / 2022

Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Film, der eine Stadt zeigt. Nichts Ungewöhnliches. Es gibt viele Filme über Städte. Meist sind es Städte-Porträts (seltsam, dass man von Porträts spricht, obwohl es nicht um Menschendarstellungen geht). Eine Stadt und ihre Geschichte, ihre Architektur, ihre Bewohner und ihre Lebensweise werden vorgestellt; in einer gewissen gebotenen Kürze zwangsweise sehr ausschnitthaft, und unvermeidbar die Präsentation der Sehenswürdigkeiten. Es geht um das Flair, und gerne werden die weniger vorteilhaften Aspekte ausgeblendet. Ein Filmteam war vor Ort, ein Redakteur, ein Journalist, vielleicht ein Regisseur haben einen Drehplan verfolgt, Genehmigungen wurden eingeholt, Statisten gewonnen, einzelne Szenen ausgeleuchtet, auch ein paar O-Töne von Stellvertreter-Menschen eingefangen. Der Schnitt sorgt dann für einen eingängigen Rhythmus und eine Dramaturgie; und wenn der Film schließlich gesendet wird, sind es meist die Bewohner der Stadt, die Ihre Stadt gar nicht recht wiedererkennen, denn die Ausschnitthaftigkeit des Films ist eine fremdartige, fremdbestimmte, und sie deckt sich nicht mit den eigenen, eingeübten Wahrnehmungen, den eigenen Sehgewohnheiten. Jene Betrachter aber, die die Stadt noch nicht kennen, denken bei sich, da könnte man auch einmal hinfahren.

Wenn Josh von Staudach eine Stadt porträtiert, entsteht ebenfalls ein Film. Aber es gab weder ein Team, noch eine Kamera, es brauchte keine Drehgenehmigung, nicht einmal die physische Präsenz des Autors.

Der Filmemacher bedient sich aus einem unvorstellbar großen Pool an Daten. Daten, die der Mediengigant Google erstellt hat und die frei verfügbar sind – „Google Earth“ – Daten, die aus Millionen von fotografischen Luft- und Bodenaufnahmen und topografischen Erfassungen zu 3-D-Modellen hochgerechnet werden, Modelle, die, durch Algorithmen gestützt, der sichtbaren Wirklichkeit nahe kommen sollen. Denn ungenau sind diese Modell-Bilder zweifelsfrei. So wie für die Landkarte gilt, dass sie nur dann so genau wie die wirkliche Topografie sein könnte, wenn sie den Maßstab 1:1 hätte, gilt für diese künstlichen 3-D-Modelle, dass sie der Wirklichkeit nur gerecht werden könnten, wenn jedes kleinste Detail vor Ort fotografiert und vermessen würde. Da die fotografischen Aufnahmen aber von kreisenden Kameraaugen von durch die Straßen fahrenden Autos stammen und von in rasendem Flug die Städte foto-optisch abgrasenden Flugzeugen, irgendwie verrechnet gar mit Satellitenbildern, da kein Hinterhof von nah fotografiert wurde, keine einzelne Tür, kein einzelnes Fenster, bleiben die erstellten Bilder fragmentarisch und voller zurechtgeschusterter Ergänzungen. Die Ergänzungen entstammen nicht der Erfahrung und der diese Erfahrung ergänzenden Vorstellungskraft eines kreativen Menschen, sondern einer leblosen Maschinenintelligenz ohne Imagination und Kenntnis, nur ausgestattet mit Vergleichsdaten.

Man kann sich diese 3-D-Modelle nun aus x-beliebigen Abständen anzeigen lassen, und es liegt auf der Hand, dass ein großer Abstand mangels Detailgenauigkeit der realen Erscheinung näher kommt (ein Waldgebiet sieht aus mehreren hundert Metern Entfernung tatsächlich wie fotografiert aus), jeder Schritt in Richtung eines kleineren Abstandes, der die Darstellung feinerer Detail verlangt, aber genau das Fehlen dieser Details und damit die mehr oder weniger fehlerbehaftete rechnerische Ergänzung in all ihrer Unvollkommenheit offenbart (eine Baumkrone wird zu einem Polygon mit irgendwie grün-gemusterten Teilflächen).

Gerade diese Ästhetik des Fehlerhaften, die verunglückten Ergänzungen durch eine beschränkte künstliche Intelligenz reizen den „Filmemacher“ Josh von Staudach; ihre surreale Ausstrahlung locken ihn als Erkunder und lassen ihn zum Entdeckungsreisenden durch eine künstliche Welt werden, deren Künstlichkeit sich kein anderer Mensch erdacht hat, sondern die entsteht durch Berechnungsprozesse, abgeleitet von einer tatsächlich vermessenen Welt.       

Man darf sich nun aber nicht vorstellen, Millionen solcher Bilder lägen in einem Archiv und wären benannt und nummeriert; nein, vielmehr wird jedes Bild in dem Moment am Bildschirm dargestellt, da jemand die Daten bei Google eingibt, von wo aus er eine bestimmte Örtlichkeit betrachten will. Er kann also einen virtuellen Fotoapparat an einer frei wählbaren Stelle platzieren, frei über die Brennweite entscheiden, die Blickrichtung, die Neigung… und sogar über den Zeitpunkt der Aufnahme (innerhalb eines Rahmens, seit dem es solche Daten gibt).

Aus dem Datenbestand kann ein virtueller Blick von der Spitze des Mount Everest genauso generiert werden, wie der aus einem Ballon über Paris auf Sacre Cœur, oder jener aus der Augenhöhe einer Ratte im Regenwald Sumatras.

Was für ein Bild nach der Wahl des Standpunktes entstehen wird, ist offen, oder sagen wir: kaum abschätzbar; und zwar nicht nur in der Hinsicht, dass dem Menschen der Standort, den er eingibt, tatsächlich unbekannt sein mag, auch der Datenbestand, auf den die Bildberechnung zugreifen kann, ist ihm unbekannt. Der Datenanfragende kann zwar vermuten, dass eine Metropolregion umfangreicher erfasst ist, als ein Wüstengebiet, aber dennoch bleibt das Ergebnis der Berechnung immer mehr oder weniger eine Überraschung.

Nun ist bislang von Bildern die Rede; es soll doch aber auf einen Film hinauslaufen. Dieser Sprung ist leicht zu machen, muss man sich doch nur kurz in Erinnerung rufen, dass ein Film nichts anderes ist, als die Aneinanderreihung von einzelnen, statischen Bildern. Diese Aneinanderreihung täuscht, wenn sie schnell genug, nämlich mit einer Frequenz von mindestens 16 Bildern pro Sekunde erfolgt, dem Auge (und dem Gehirn) eine natürlich fließende Bewegung vor.

Von Staudach lässt nun genau solche aufeinanderfolgenden Bilder berechnen und aneinanderreihen. Das Ergebnis ist der Flug einer virtuellen Kameradrohne, und die Geschwindigkeit ihres Fluges resultiert schlicht aus den gewählten Abständen zwischen den einzelnen Aufnahmen. Lässt der „Pilot“ z.B. Einzelbilder in Abständen von einem Meter berechnen und stellt die Videofrequenz auf 25 Bilder pro Sekunde ein, so fliegt diese virtuelle Drohne scheinbar mit 25 Metern pro Sekunde durch die virtuelle Umgebung; das entspricht 90 km/h. Größere Abstände führen bei gleicher Videofrequenz zu höheren, kleinere Abstände zu langsameren Fluggeschwindigkeiten.

Die Flugbahn resultiert dabei aus der über den Abstand hinaus kontinuierlich veränderten Position der virtuellen Kamera im virtuellen Raum, einer Änderung, mit der Kurven nach allen Richtungen im Raum ebenso simuliert werden können, wie seitliche Neigungen oder Drehungen.   

Dass bei dieser kleinen Erläuterung des technischen Hintergrundes penetrant der Begriff „virtuell“ gebraucht wird, hat seinen Grund, führt er doch direkt zu einem elementaren Unterschied zwischen einem herkömmlichen Film und einem aus solcherlei aus 3-D-Modellen generierten Film.

Im herkömmlichen Film zerlegt die aufnehmende Kamera das Kontinuum der aufgenommenen Umgebung mit all ihren Bewegungen (Gesamtbewegungen, die als Vektoradditionen der Kamerabewegung und der Veränderung sich bewegender Gegenstände vor der Kamera resultieren) in statische Einzelbilder, die in einem quasi gespiegelten Umkehrprozess beim Abspielen wieder zum Kontinuum zurückverwandelt werden. Sieht man von bewusst herbeigeführten Verzerrungen der Zeit (Zeitlupe, Zeitraffer) ab, erfolgen Zerteilung und Wiederzusammensetzung im gleichen Regelwerk; Bewegungen in der eingefangenen Realität erscheinen also bei ihrer Entlassung aus der Konservierungsapparatur wiederum real.

Die Kontinuität der von Josh von Staudach gewählten Einzelbilder entspricht aber in keiner Weise einer umgekehrten Kontinuität während ihrer Entstehung, einfach, weil es diese Kontinuität nie gab. Von Staudachs Filme ähneln – wenn es überhaupt eine Ähnlichkeit gibt – eher einem modernen Animationsfilm, dem ja ebenfalls aus Drahtgittermodellen errechnete Einzelbilder zugrunde liegen. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Schöpfer solcher Filme ihre Modelle von vorne herein auf eine dem Drehbuch folgende Szene hin vorbestimmt, also jeden Winkel und jeden Abstand, jede Beleuchtung und jede Textur bis ins Kleinste berechnet haben. Der Datenbestand von Google hingegen enthält alle denkbaren Abstände, Winkel, Tageszeiten, etc.

Da nun aber jedes dieser potenziellen Einzelbilder aus nicht nachvollziehbaren Parametern errechnet wird, Parameter, die womöglich zu unterschiedlichen Zeiten erfasst und ergänzt wurden, entsteht das Kontinuum nach der Zusammensetzung eben nicht aus einem zuvor zerlegten Kontinuum, vielmehr aus seinem Gegenteil: Jedes einzelne Bild kann aus einem disparaten Datenbestand zusammengestückelt sein.

Auch wenn diese detailversessene Betrachtung für den Betrachter kaum eine Auffälligkeit sein wird, erscheint sie mir wichtig, weil sie mich zu der Behauptung führt, in den Filmen von Josh von Staudach würde Zeit in gewisser Weise aufgelöst.

Die Zeit löst sich in mehrschichtigen Paradoxien auf. Da ist zum einen die Künstlichkeit der Bilder, die nicht erfunden, sondern eruiert ist, dann das Kontinuum der Bewegung, das nicht auf Wiederzusammensetzung eines zuvor zerteilten Kontinuums basiert und – als Zuspitzung: das noch nicht Fertige, das aussieht, als sei es im Verfall begriffen. Das nämlich ist der prägnanteste Teil des Paradoxons: Wir wissen, dass die an der sichtbaren Realität gemessene Unvollkommenheit dieser aus Daten berechneten Bilder sich mit einer Weiterentwicklung der Technik und einer stetigen Vergrößerung des Datenbestandes schmälern und immer besser der sichtbaren Realität annähern könnte – ein Aspekt des Zukünftigen also –, die Erscheinung der Abbildungen wirkt aber, als ob die erfasste Welt in der Vergangenheit läge: zerbrochene Architektur, löcherige Fassaden, wie von der Zeit weggefressene Partien, in gestockter Luft frei schwebende Masten und Pfeiler, abgestellte Autos, die wie geschmolzen aussehen oder wie von Spinnen in konturlose Netzgeflechte eingesponnen…

Was noch nicht fertig ist, ist zugleich schon zersetzt, zerstört, verbogen. Von Menschen erdachte Rechenkapazitäten erzeugen Bilder einer menschenleeren Erde, aus der der Mensch sich trotz seines Wissens und seiner technischen Fähigkeiten und mittels seiner Technik selbst hinweggefegt hat.

Für mich ist es kein großer Schritt, mir den Film von Josh von Staudach ohne seinen Realisator vorzustellen – als ob eine übrig gebliebene Maschinenintelligenz sich selbst in Gang gesetzt hätte, diese Bilder zu errechnen und zu animieren. Eine wahrhaft groteske Kulisse ehemaliger Lebenspotenziale, ein Totentanz der Dingwelt, eine Geisterbahnfahrt durch die Apokalypse.

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